Weisheit
Weisheit und Übung. Drei Modelle aus Ostasien
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Das in westlichen Gesellschaften weitverbreitete Interesse an fernöstlicher Weisheit und Spiritualität kann unterschiedlich bewertet werden. Manche mögen eine gewisse Skepsis angesichts vieler übereilter oder oberflächlicher Bezugnahmen empfinden, die mit den Realitäten nicht unbedingt viel zu tun haben. Wer nur deshalb weise sein möchte, weil dies gerade sehr angesagt ist, wird kaum eine angemessene Antwort auf die wirklich herausfordernden Situationen ihres oder seines Lebens finden. Die Suche nach Weisheit ist nie nur angenehm; und es wäre sicher ein großer Verlust, wenn uralte Weisheitstexte aus aller Welt heute den verunsicherten Konsumenten multikulturelle Ersatzidentitäten bereitstellten, ohne dass diese noch das Bedürfnis verspürten, ihre vorhandene Lebensform radikal zu ändern. Und doch: Es ist kaum zu leugnen, dass wir alle noch eine vage Vorstellung von dem Weise-Sein besitzen; und man kann sich leicht Situationen vorstellen, in denen es von uns verlangt ist, ein „weises“ Verhalten an den Tag zu legen, ohne dass wir zugleich eine präzise Definition dieses Wortes parat hätten. Weisheit ist nicht einfach etwas Vergangenes.
Die traditionelle Kultur Chinas scheint vielen Menschen im sogenannten „Westen“ (Europa, Nordamerika) so fremd, dass sie sich einen anderen Zugang als den historischen überhaupt nicht vorstellen können. Wer sich aber einmal länger mit chinesischen Texten beschäftigt hat, wird schnell sehen, dass sie auch uns sehr bekannte Themen behandeln, insbesondere aber plausible Antworten auf die gegenwärtige Frage zur Weisheit bereithalten.[i] Unter Rückgriff auf zentrale Positionen aus der konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen Schule werde ich im Folgenden drei Formen des Weisheitsdenkens im vormodernen China skizzieren: (1) Weisheit als Handlungswissen, (2) Weisheit als Nichtwissen und (3) Weisheit als unmittelbare Anschauung der Leere.
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Im klassischen China (ca. 1046-256 v. Chr.) war oft die Rede von den früheren Weisen, den Weisen eines sagenhaften Altertums – und zwar unter dem Eindruck eines schmerzhaften Verlustes. Etwas Großes und Bedeutsames war verloren gegangen, eine umfassende Ordnung nachhaltig gestört worden; und nur ein Mensch schien in der Lage, den Zeitgenossen, die sich offensichtlich in einem Zustand der Desorientierung befanden, das Denken und Handeln dieser Weisen zu erläutern: Konfuzius (551-479 v. Chr.).[ii] Der Meister Kong, wie er auch oft genannt wird, wollte selbst nicht als „weise“ oder „heilig“ bezeichnet werden (im klassischen Chinesisch sheng 聖); dafür war er schlicht zu bescheiden. Außerdem ging es ihm ja um das fortwährende, nie unterbrochene Lernen und Bemühen, das allein den Menschen verbessern könne. Ein wichtiges Kennzeichen der Weisheit ist deshalb, sich der Grenzen der eigenen Fähigkeiten bewusst zu sein und sich nie mit dem Erworbenen zufriedenzugeben: „Sei dir bewusst, was Du weißt. Was du hingegen nicht weißt, das gib zu. Das ist dann Weisheit.“ (Lehrgespräche 2:17)[iii]
Es ist oft darüber gestritten worden, ob der Konfuzianismus nun eine Moralphilosophie, gar eine atheistische Ethik enthalte, oder es sich bei ihm nicht vielmehr doch um eine politische Doktrin handele, eine traditionalistische Weltanschauung mit deutlich religiösen Zügen. Wie auch immer dem sei, der Meister hielt seine Schüler zweifellos dazu an, sich in einen „Überlieferungszusammenhang der Weisheit“ zu stellen. Weisheit wurde von Konfuzius als ein erstrebenswertes Ziel angesehen. Wer „weise“ (xian 賢; 1:7) und damit zu einem „Edlen“ (junzi 君子; 1:1, passim) werden wollte, musste sich in dem von ihm beschriebenen Bildungs- und Übungsprojekt beweisen. Dieses schloss den Erwerb detaillierter Kenntnisse über die Rituale, Musik, Kalligraphie, Bogenschießen und vieles andere ebenso ein wie die Beherrschung der kanonischen Schriften (oft zusammengefasst unter der Bezeichnung „sechs Klassiker“). Allein ein solches Wissen könne den Einzelnen befähigen, im Alltag das richtige Verhalten an den Tag zu legen.
Bei Sokrates ist die Selbsterkenntnis eine wichtige Quelle der Weisheit. Auch in der Schule des Konfuzius wird von seinen Schülern eine Reflexion auf sich selbst verlangt (vgl. 1:4), nur fehlt bei ihm die Vorstellung einer unteilbaren, unsterblichen Seele, die der Suche nach Selbsterkenntnis eine besondere Dramatik verleihen könnte. Wahrscheinlich ist die Überzeugung, dass ich eine besondere Verpflichtung gegenüber einer normativ verstandenen Vergangenheit besitze, im Konfuzianismus sogar noch wichtiger. So beklagte sich der Meister einmal, dass er nicht mehr vom Fürsten Zhou träume, einem besonders kundigen, weisen Mann des Altertums – ein unübersehbares Zeichen dafür, dass er nicht mehr auf der Höhe war, dass es mit ihm „abwärts“ ging (7:5). Es ist klar, dass wer auf Konfuzius’ Höhe sein will, von einem besonderen Pflichtgefühl durchdrungen sein muss; er (oder sie) muss in einem besonderen Maße gesammelt und bei der Sache sein, mit einem tiefen Ernst, und sich beständig an den höchsten ethischen Vorgaben messen lassen, die sich natürlich primär aus der tradierten Lehre ableiten (1:8). Ein nach Weisheit strebender Mensch wird sich darüber hinaus im Alltag unaufhörlich anstrengen (5:10), wird darauf achten, sein Wissen in der Alltagspraxis anzuwenden (5:14), außerdem große Ehrfurcht vor väterlicher Autorität an den Tag legen (1:11, 4:20), zudem „würdevoll im Auftreten“ (1:8) und „frei von Zweifeln“ sein (9:29).
Der Meister fasst den Menschen als stets in eine Gemeinschaft eingebunden auf, obgleich mitunter im Konflikt mit dieser (etwa 1:4; vgl. 8:13). Zu einem gelingenden Leben gehören deshalb soziale und politische Tugenden wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. Wer tugendhaft ist, dem wird es offenbar auch leichter gelingen, Weisheit zu erlangen. Ein solcher Mensch wird maßvoll sein und nicht aggressiv auf seinen Vorteil bedacht (siehe etwa 3:7); er wird seinen Wünschen nicht einfach nachgeben, sondern sich in Übereinstimmung mit den Ritualen verhalten (12:1), darf nicht leichtfertig mit der Kritik der anderen umgehen, wird Geduld und Vertrauen an den Tag legen und sich vor Geschwätz und schönen Worten hüten, lieber mit Bedacht reden (1:14), wenn nötig auch schweigen (1:3, 17:19). Für Konfuzius war darüber hinaus die Wiederherstellung jener rituellen Gesamtordnung, wie sie die früheren Weisen angeblich verwirklicht hätten, unerlässlich. Deshalb hielt er es auch für eine zentrale Funktion der Weisheit, dass sie in der Politik ihre Entfaltung finden könne, als Herrschafts- und Ordnungswissen (6:24). Einem seiner Schüler erklärte er einmal: „Zu den Pflichten stehen, die man gegenüber dem Volk hat, die Geister verehren, aber nicht darin aufgehen – das kann man Weisheit nennen“ (6:22). Wer kundig und weise ist, der wird nicht unbedingt bei seinen Mitmenschen beliebt sein, er dürfte aber früher oder später in der Politik Erfolg haben. In späteren Jahrhunderten haben Generationen von Beamten nüchtern, fleißig und diesseitsorientiert die konfuzianische Weisheit, die stets eine herrscherliche und eine richterliche Dimension einschließt, zu praktizieren gesucht.
Offenbar war Konfuzius, ähnlich wie Aristoteles, davon überzeugt, dass Weisheit die anderen Tugenden voraussetzt, aber diese auch übertrifft und deren Gebote gegeneinander auszubalancieren hilft. Wer tatsächlich „praktische Weisheit“ (phrónesis φρόνησις) sein Eigen nennen darf, sollte also in der Lage sein, in unterschiedlichen Situationen und sozialen Rollen die verschiedenen Handlungsoptionen abzuwägen, die ethisch angemessenste zu identifizieren und diese dann auch in die Tat umzusetzen. Weisheit wird mithin als Handlungswissen verstanden. Darüber hinaus besitzt Weisheit jedoch stets, jenseits allen menschlichen Handelns, eine kontemplative Dimension. Am Ende des Übungsweges gilt es, politische Zwecksetzungen zu transzendieren und zu einer tieferen Einsicht in die Ordnung der Welt vorzustoßen (11:26). Worin genau diese besteht, ist nicht leicht zu sagen, zumindest wenn wir uns dicht an den ursprünglichen Text der Lehrgespräche halten. Göttlicher Zuspruch ist dafür nicht nötig (7:35); und anders als Sokrates hatte dieser Meister aus dem alten China zu viel Ehrfurcht vor Orakelsprüchen, als dass er ihnen in der Alltagspraxis große Bedeutung zugeschrieben hätte (7:17). Im Alter von fünfzig Jahren, heißt es einmal über Konfuzius, wusste er „den Befehl des Himmels“, und mit sechzig Jahren sei er in der Lage gewesen, „diesem wie von selbst zu folgen“ (2:4). Auch wenn er stets die Autarkie seines Menschseins betonte und Weisheit nie nach dem Vorbild eines göttlichen Wissens verstanden hat, unternahm der Meister also durchaus einige Anstrengungen, sein Leben auf eine transzendente oder übernatürliche Perspektive (den „Himmel“) auszurichten.
So manche von Konfuzius’ Äußerungen wirken auf moderne Leser trivial. Jedoch dürfte genau in dieser Trivialität der Grund für die große Wirkung des konfuzianischen Bildungs- und Übungsprojekts zu suchen sein. Der weise Spruch klingt ja genau deshalb oft abgedroschen, weil er etwas ausspricht, was wir, wenn wir nicht künstlich Abstand zu unseren Lebensbezügen zu halten suchen, längst wissen sollten. Viele Kommentatoren haben auch zu Recht darauf hingewiesen, dass Konfuzius seinen Schülern – gegenwärtigen und zukünftigen – sehr bewusst eine „indefinite Existenz“ vorgelebt habe, ja, dass die „Form der Kommunikation von Weisheit“ wichtiger sei als ihr partikularer Inhalt.[iv] Daher kommt es wohl auch, dass es sich bei der konfuzianischen Weisheit letztlich weniger um eine Erkenntnis (ausdrückbar in wahrheitsfähigen Aussagen) als um eine Haltung handelt, die zwar bestimmte Einsichten voraussetzt, deren eigentlicher Gehalt jedoch nicht zu versprachlichen ist. Weisheit operiert „punktuell und okkasionell“.[v] So sehr wir in unserem Streben nach theoretischer oder systematischer Klarheit uns auch wünschen mögen, dass Konfuzius sich doch einmal allgemein äußere – er tut das eigentlich nie.[vi] Wer sich ihm nähern möchte, ist also angehalten, sich in die verwickelten, ja oft äußerst verwirrenden Zusammenhänge der Lehrgespräche hineinzudenken, so lange, bis vielleicht der Punkt sichtbar wird, an dem die Textur des eigenen Lebens mit der dieses Buches in eins fällt. Dann wäre es tatsächlich mehr als ein historisches Relikt und könnte in unserem Leben Bedeutung, ja sogar einen normativen Sinn entfalten.
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Konfuzius’ Schüler haben sein Bildungs- und Übungsprojekt mit großer Leidenschaft fortgeführt. Wie ihr Lehrer reisten sie durch die damals bekannte Welt und boten an den Höfen ihre Dienste als Fürstenberater und Erzieher an. Doch ihr Sendungsbewusstsein zog schon bald heftige Kritik auf sich. Unter den nicht gerade wenigen Gegnern ihres Lehrers dürften die entschiedensten die frühen Daoisten gewesen sein. Aus ihrer Sicht muss das konfuzianische Bildungs- und Übungsprojekt zwangsläufig scheitern. Mit einer überraschenden Schärfe heißt es im wohl wichtigsten Text des philosophischen Daoismus, dem Daodejing (auch Tao Te King, der „Klassiker vom Weg und seiner Kraft“), das traditionell Laozi zugeschrieben worden ist, bei dem es sich tatsächlich aber nur um eine legendäre Figur handelt:
„Fort mit der Heiligkeit, weg mit der Weisheit
und dem Volk wird daraus hundertfach Nützlichkeit.“
(Abschnitt 19)[vii]
Der Verdacht muss früh aufgekommen sein, dass die ethische Haltung des Konfuzius letztlich aufgesetzt bleibt, bzw. dass sich der „Edle“ hinter seiner höflichen Rücksicht verbirgt. Über ihn wird schließlich einmal berichtet, er habe bei einem Tempelbesuch, obwohl er längst alle Rituale kannte, doch noch Unwissenheit vorgeschützt und sich alles noch einmal erklären lassen (Lehrgespräche 3:15; vgl. auch 10:14). Das konfuzianische Lernen, so heißt es im Daodejing wiederholt, führe in die Irre, denn all diese Bemühungen um Zivilisierung und Orientierung des Alltags an einem Ritualsystem bewirkten nur zu leicht das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen: Wer sich darum bemühen müsse, menschlich zu handeln, lege nur eine stets größer werdende Distanz zwischen sich und die Tugend der Menschlichkeit (Abschnitt 38). Dazu kommt ein weiterer leicht irritierender Umstand. In der Schülerschaft des Konfuzius kristallisiert sich quasi eine Rangordnung der Weisheit aus: Nur die auf dem Übungsweg bereits Fortgeschrittenen dürfen sich zum engeren Zirkel rechnen, nur ihnen teilt Konfuzius seine innersten Gedanken mit; und nicht zuletzt passt er seine Worte ihrer unterschiedlichen Einsichtsfähigkeit an (16:9; vgl. 5:9, 5:13, 7:24). Dagegen waren die Daoisten davon überzeugt, dass, wer weise werden möchte, aus vorhandenen Übungshierarchien ausbrechen und ganz für sich selbst leben müsse:
„Wirf fort das Erlernte, und du wirst ohne Sorgen sein!“
(Abschnitt 20)
Während Konfuzius Weisheit, wie schon gesagt, primär als Handlungswissen versteht, kehren die Anhänger des Daoismus dies um. Entsprechend der „Regel der Verkehrung“ (Hans-Georg Möller) gilt: Nur wer nicht herrscht, wird alles beherrschen; und nur wer sein Ziel aufgibt, wird es erlangen.[viii] Weisheit sollte also von jeder Form von Absichtlichkeit freigehalten werden; sie ist eher in Zuständen des Nichtwissens, der Passivität und des Schwachseins zu finden als in solchen des Wissens, der Aktivierung von Fähigkeiten oder gar des Herrschens über andere Menschen. Echte Weisheit ist unbestimmt und einzigartig; sie ist nicht sprachlich oder begrifflich verfasst und kann deshalb auch nicht zum Gegenstand der Reflexion oder eines rationalen Lernprozesses werden. Weisheit kann per se nicht von einer Gemeinschaft zu einem erstrebenswerten Ziel erklärt werden.
Wer sich in der Weisheit üben will, sollte diese Absicht also erst einmal gegen sich selbst wenden. Günstig ist es allemal, sich der Sphäre des Unbestimmten zu überlassen, der „reinen Stille“ (Abschnitt 45). Besonders aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch die Metapher des „Säuglings“, zu dem wir wieder werden sollen (Abschnitt 10, 20, 55). Sie zeigt an, dass es im Daoismus darum geht, die eigentlich alle menschlichen Lebensformen und Zivilisierungsbemühungen auszeichnende Tendenz zur fortwährenden Ausdifferenzierung umzukehren und wieder einen Zustand der Ursprünglichkeit zu erreichen. Pointiert wird das konfuzianische Bildungs- und Übungsprojekt einmal so kritisiert:
„Wer sich dem Lernen verschreibt, gewinnt täglich dazu;
wer dem Dao ergeben ist, wird täglich geringer.“
(Abschnitt 48)
Der Mensch soll mithin „leer“ und „nutzlos“ werden (Abschnitt 11), „karg“ (Abschnitt 59), „trübe“ (Abschnitt 15) oder „tief“ (Abschnitt 1, 6, 10, 51, 56, 65). Die „Farbenpracht“ der Sinneseindrücke, ja die Intensität der Erfahrung selbst, kann nur störend wirken (Abschnitt 12). Die daoistische Sprache bleibt dabei wohlgemerkt absichtlich diffus; ihre eigentliche Redeweise ist die Spruchweisheit, die alles umfassen kann, weil sie es vermeidet, konkret zu werden, um stattdessen stetig expandierende Vorstellungsräume zu öffnen:
„Die große Gradheit gleicht der Krümmung“
(Abschnitt 45)
Oder auch:
„Wer weise ist, redet nicht.
Wer redet, ist nicht weise.“
(Abschnitt 56)
Wer bereit ist, sich in solchen Redeweisen (oder besser: Schweigeweisen?!) zu üben, zeigt damit an, dass er innere Ruhe und Abstand von dem Wunsch nach rationaler Durchdringung gefunden hat. Der wirklich weise Mensch wird nichts mehr anstreben, sondern sein Wollen so weit reduzieren, dass sein Ich frei wird von allen möglichen Bestimmungen; er wird ganz in einer kontemplativen Haltung aufgehen.
Um sich vom bloßen Wissen über die Welt zu befreien und sich für eine Weisheitsperspektive zu öffnen, bedarf es zweifellos der Selbsterkenntnis. So schreibt Wang Bi (226-249 n. Chr.), ein bekannter Philosoph und Kommentator: „Wer andere Menschen kennt, besitzt nur Wissen. Viel höher steht, wer sich selbst kennt, da er die Grenzen des (gewöhnlichen) Wissens überschritten hat.“[ix] Die daoistische Pointe besteht nun darin, dass ich mich, indem ich mich auf mich selbst aufrichte, zwar als vereinzelt (Abschnitt 20) und damit als absolut geringfügig wahrnehme, doch mir auf diese Weise zugleich das Tor zur Welt aufgestoßen wird. Mikrokosmos und Makrokosmos sind eins; und hinter dem sich aller Bestimmungen entledigenden, gar nicht mehr als Gegenüber fassbaren Selbst eröffnet sich die „All-Einheit“. Daher finden wir in daoistischen Texten zahllose Beschreibungen kosmischer Abläufe und Prozesse des Fließens, bei denen Raum und Zeit relativiert werden, denn es werden überhaupt keine Objekte mehr unterschieden, an denen noch Innen- oder Außenperspektive – oder Veränderungen in Raum und Zeit – festgemacht werden könnten. Im Buch Zhuangzi, dem zweiten Klassiker des Daoismus, wird die Weisheit als eine Fähigkeit bestimmt, sich aller Begrenzungen zu entledigen und aus einer Perspektive der Totalität die Welt überblicken zu können. Sogar die Unterscheidung zwischen Wachzustand und Traum stelle keine feste Grenze mehr dar, denn der Weise soll fähig sein, sich aus der Perspektive des Dao – wie es im berühmten Schmetterlingstraum heißt – beide gleichermaßen zu vergegenwärtigen.[x] Das berühmte Wort Dao 道(wörtlich „Weg“, „Methode“), das bei Konfuzius noch recht nüchtern auf den richtigen Übungsweg verweist, also ein Leben in Übereinstimmung mit dem konfuzianischen Projekt, steht in daoistischen Texten letztlich für die Ganzheit der Welt; und so enthält es zugleich die Forderung nach einer stetigen, nie innehaltenden Erweiterung der individuellen Perspektive. Der Endpunkt dieser „Dao-Bewegung“ ist nicht eine absolute Distanzierung von der Welt – verstanden etwa als platonische Schau –, sondern eine Verschmelzung mit der Welt.[xi] Genau deshalb heißt es im Daodejing:
„Was keine Fülle hat, vermag zu durchdringen, was ohne Zwischenraum ist“
(Abschnitt 43)
Ohnehin scheint sich der daoistische Weise insbesondere durch die Fähigkeit des „Durchdringens“ (tong 通) hervorzutun (Abschnitt 15). Weil er keine Identität mehr besitzt und quasi zu etwas Nicht-Identischem geworden ist, fällt er durch alle Netze hindurch.
So sehr die Daoisten sich auch zu öffnen suchten für das Nichtwissen und die reine Prozessualität jenseits der Sprache, so haben viele interessanterweise doch auch versucht, so etwas wie ein „Wissen der Weisheit“ an andere weiterzugeben. Die höchste Einsicht erfordere „Klarheit“ (ming 明), nämlich eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit, die noch die unscheinbarsten Entwicklungen wahrnimmt und darüber hinaus den Übenden dazu befähigen soll, die Konsequenzen seines gegenwärtigen Handelns für die Zukunft zu antizipieren (siehe z.B. Daodejing, Abschnitt 52). Während der Wandel für gewöhnliche Menschen weitgehend unerklärlich bleibt, versteht sich der Weise darauf, das Kräftespiel von Yin und Yang zu entziffern und – z.B. mithilfe des Buchs der Wandlungen, das oft als ein daoistischer Text interpretiert worden ist – die wiederkehrenden Muster zu identifizieren (ganz ohne allgemeine Strukturen, die die Wirklichkeit durchwalten und diese für den Menschen transparent werden lassen, kommt also auch der Daoismus nicht aus). Es geht streng genommen nicht darum, die Zukunft im Voraus zu wissen, sondern vielmehr sie zu beeinflussen, ja entsprechend der Vorgaben des Dao zu formen.[xii] Interessanterweise sind im Umkreis solcher Sehnsüchte nach mystischer Einheit auch Wissensformen entwickelt worden, die sich auf empirisch falsifizierbare Hypothesen über die Außenwelt stützten. Mittelalterliche Gelehrte wie Ge Hong (spätes 3. bis frühes 4. Jh.) und Tao Hongjing (456-536 n. Chr.) haben sich mit naturkundlichen Fragestellungen befasst, die von einem protowissenschaftlichen Erkenntnisinteresse in Disziplinen wie Alchemie und Medizin zeugen.[xiii]
Was wir bisher gesehen haben, deutet daraufhin, dass sich der daoistische Weise – im Gegensatz zum konfuzianischen – von der Politik fernhält und sein Heil jenseits der Öffentlichkeit in der ureigenen Subjektivität sucht. Während ein Konfuzianer sich selbst diszipliniert, um in der Welt der Praxis eine grundsätzliche Veränderung zum Besseren zu erreichen, zieht sich die Daoistin in sich selbst zurück, um auf diese Weise eine Relativierung der eigenen Perspektive auf die Welt hin zu bewirken.
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Im Zentrum des Buddhismus steht der Gedanke des Leidens. Hinter allen Erfahrungen verbirgt sich Leiden, das auf Gier beruht, und das Ziel aller unserer Anstrengungen sollte deshalb die Befreiung vom Leiden sein. Dieser Gedanke ist manchmal im Sinne eines Pessimismus gedeutet worden, doch würden Buddhisten darauf gewiss erwidern wollen, dass die menschliche Existenz, wenn wir sie nur richtig sehen, eben nichts anderes sei als Leiden; und dass es diese Einsicht sei, die uns zum Mitleiden befähigt, zum Mitempfinden am Leid aller Lebewesen.
Mit der Einführung des Buddhismus in China (ab dem 1. Jh. n. Chr.) rückte die Perspektive des einzelnen Menschen, des leidfähigen Individuums, die weder im Konfuzianismus noch im Daoismus zentral war, in den Vordergrund. Aus Sicht der Buddhisten, wird es vom Menschen verlangt, „Weisheit“ (auf Sanskrit prajñā, auf Chinesisch zhi 智), also Einsicht in die wirkliche Natur der Erscheinungswelt, zu erlangen. Dass zwischen Leidenserfahrung und der Zunahme von Weisheit eine enge Verbindung besteht, ist oft bemerkt worden. Für den Mahāyāna-Buddhismus gibt es keine Seele oder ein Ich, sondern nur die universale Leere (von Selbst und Welt). Durch geistige Disziplin und Übungsformen wie die Meditation soll echte Einsicht in diese Leere erlangt werden. Echte Weisheit ist zu suchen in einer unmittelbaren Anschauung dieser Leere, bei der nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt unterschieden werden kann.[xiv] Das Selbst „versinkt im Nichts“ – nur dass ich, wenn ich mich einer solchen Redeweise bediene, bereits den eigentlichen Charakter der Leere zu verfehlen drohe, weil die Grammatik der deutschen Sprache (mit den unverzichtbaren Satzgliedern Subjekt und Prädikat) nur zu leicht die folgende Sichtweise nahelegt: so als gäbe es eine dem Wandel entzogene Substanz, der unterschiedliche Attribute zugeschrieben werden können. Aber genau eine solche Substanz kann es nicht geben. Der Weise wird sich deshalb der vorhandenen sprachlichen Mittel nur mit großer Vorsicht bedienen. Die Rede von der „Leere“, bzw. der „wirklichen Natur der Erscheinungswelt“ darf deshalb natürlich auch nicht, so wenigstens erklärt Nāgārjuna (ca. 150-250 n. Chr.), der für Ostasien wichtigste buddhistische Philosoph, in dem Sinne verstanden werden, dass Wörter hier tatsächlich auf etwas verweisen würden.
Es handelt sich beim Buddhismus im Kern also um ein radikal skeptisches Denken, das uns von der Scheinhaftigkeit einer karmabestimmten Welt überzeugen will, ohne dass noch etwas Bestimmtes über diese ausgesagt wird. Weisheit besteht darin, sich in paradoxen Sprechweisen geübt zu haben, die genau diese- Scheinhaftigkeit ausdrücken, ohne sie positiv zu behaupten. Sprachlich kann nicht angemessen wiedergegeben werden, wie sich das Klatschen mit einer Hand anhört.
Den Daoisten waren solche Gedanken keineswegs fremd, und so kam es schon bald zu Versuchen, die beiden Strömungen miteinander zu verbinden, etwa bei dem brillanten Seng Zhao (384-414 n. Chr.). Die Denkweise eines Nāgārjuna schien dem Denken des Dao in mancher Hinsicht ähnlich: das Kräftespiel von Yin und Yang, das der Weise durchschauen soll, spiegelt sich in der buddhistischen Dialektik, die nichts mehr behauptet, weil jede Behauptung bereits die höchste Einsicht verraten muss. Nur einen Unterschied gibt es: der Wandel, dem sich die Daoisten ausliefern möchten, ist wirklich, während er bei den Buddhisten scheinhaft ist. Aber auch die Konfuzianer versuchten, die Wahrheiten des Mahāyāna-Buddhismus mit der Weisheit des Konfuzius zu verschmelzen. Dass dieser mehr als einmal dem Wunsch Ausdruck gegeben hatte, über die letzten Fragen am liebsten gar nichts zu sagen (insbesondere 17:19), ermöglichte es späteren Kommentatoren, ihn in die Nähe des historischen Buddhas zu rücken, der ja auch an entscheidenden Stellen geschwiegen hat. Ebenso wurde das Verhältnis von Kontemplation und Praxis neu bestimmt; bei Wang Yangming (1472-1529) bedarf es nicht mehr des langjährigen Lernens, um auf dem Weg zur Weisheit voranzukommen, sondern die Übung im Alltag, im Hier und Jetzt, reicht dafür völlig aus.[xv]
5
In meinem Text habe ich einige zentrale Aspekte des Weisheitsdenkens im vormodernen China zusammengefasst. Natürlich könnte noch viel mehr gesagt werden. Man könnte zum Beispiel darauf hinweisen, dass in Ostasien vor dem 20. Jahrhundert nie der Versuch unternommen worden ist, jenseits der Weisheitslehren eine eigenständige, institutionell verankerte Disziplin der Philosophie zu begründen. Insofern Konfuzius in der politischen Kultur Chinas eine überragende Bedeutung zugeschrieben worden ist, stellte die chinesische Geschichte eine einzige lange Weisheitsgeschichte dar. Und natürlich hat diese Geschichte viele problematische Aspekte; so besitzt die konfuzianische Vorstellung, dass die gesellschaftliche Ordnung direkt einer Rangordnung der Weisheit entsprechen müsse, zweifellos einen repressiven Zug. Viele traditionelle Ideale in Ost und West haben sich als Illusionen herausgestellt, sobald Menschen sich dazu entschieden haben, die von diesen Idealen begründeten Praktiken einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Trotzdem vermögen so manche Ideale es auch heute noch, Menschen zu inspirieren; und da wir selbst im 21. Jahrhundert nicht wirklich wissen, worin ein gelingendes Leben für die Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten besteht, wäre es da nicht sinnvoll, sich einmal genauer mit ostasiatischen Modellen von Weisheit und Übung zu beschäftigen?!
[i] Bei Hans Julius Schneider findet sich „die Empfehlung, die Vorstellungen, die uns aus fremden Kulturen oder aus den Frühzeiten unserer eigenen Kultur als auf den ersten Blick vielleicht bizarre metaphysische Lehren entgegen kommen, nicht einfach wie ein Zoologe im Aquarium verwundert und kopfschüttelnd zu klassifizieren (‚die Buddhisten glauben, dass …‘; ‚Platon glaubte, dass …‘), sondern stets mit der Frage zu beginnen, in welchen Arten von Situationen diese Lehren ihren Zuhörern welchen Rat geben wollen.” (ders., Religion, Berlin: de Gruyter, 2008, S. 135)
[ii] Zur Biographie siehe Annping Chin, Konfuzius – Geschichte seines Lebens (Frankfurt a. M. und Leipzig: Verlag der Weltreligionen, 2009).
[iii] Meine Übersetzungen der Lehrgespräche folgen weitgehend: Konfuzius, Gespräche, übers. und hg. von Ralf Moritz (Stuttgart: Reclam, 1998). – In den Texten finden sich die beiden Schriftzeichen zhi 知 („wissen”, „weise sein”) und zhi 智 („Wissen”, „Weisheit”). Weiterführend: Philippe Brunozzi, Kai Marchal, „Der Wissensbegriff in der chinesischen Philosophie,” in: Lexikon der Erkenntnistheorie, hg. von Thomas Bonk (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013), S. 300-313.
[iv] Rudolf G. Wagner, „Die Unhandlichkeit des Konfuzius“, in: Aleida Assmann, Hg., Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III (München: W. Fink Verlag, 1999), S. 455-464; hier: S. 463.
[v] Aleida Assmann, „Was ist Weisheit? Wegmarken in einem weiten Feld“, in: Dies., Hg., Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III (München: W. Fink Verlag), 1999, S. 15-44; hier: S. 18.
[vi] Selbst allgemein scheinende Aussagen des Konfuzius wie die bekannte negative Fassung der Goldenen Regel sind immer an einen konkreten Adressaten gerichtet (12:2, 15:24).
[vii] Meine Übersetzungen des Daodejing folgen weitgehend: Laotse. Tao Te King, hg. von Hans-Georg Möller (Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 1995).
[viii] Vgl. Laotse. Tao Te King, S. 21f.
[ix] Zit. in Laudse Daudedsching, übers. von Ernst Schwarz (München: dtv Verlag, 1985), S. 167.
[x] Das Buch der Spontaneität. Über den Nutzen der Nutzlosigkeit und die Kultur der Langsamkeit, übers. von Victor H. Mair (Oberstdorf: Windpferd, 2013), 2. Auflage, S. 64.
[xi] Siehe etwa Harold D. Roth, „Bimodal Mystical Experience in the ‚Qiwulun 齊物論’ Chapter of the Zhuangzi 莊子“, in: Hiding the World in the World. Uneven Discourses in the Zhuangzi, hg. von Scott Cock (Albany: State University of New York Press, 2003), S. 15-32.
[xii] Vgl. Joachim Gentz, „Wenn, weil – dann. Besonderheiten altchinesischer Prognostik im ‘Xici’-Kapitel des Buches der Wandlungen und im Zuozhuan”, Berliner Theologische Zeitschrift, Band 38, Heft 1 (2021), S. 29-47.
[xiii] Vgl. Lisa Raphals, „Chinese Philosophy and Chinese Medicine” (2020), siehe: https://plato.stanford.edu/entries/chinese-phil-medicine/(zuletzt: August 2022).
[xiv] Nagarjuna, Die Lehre von der Mitte: Zweisprachige Ausgabe, übers. von Lutz Geldsetzer (Hamburg: Meiner, 2010).
[xv] Iso Kern, Das Wichtigste Im Leben: Wang Yangming (1472-1529) und seine Nachfolger über die ‹Verwirklichung des ursprünglichen Wissens› (Basel: Schwabe, 2010).
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Zwar hat die Hermeneutik ihren Namen von der Schrift im Corpus Aristotelicum, die unter den Titeln‘Περὶ ἑρμενείας [Perì hermeneías]’ und ‘De interpretatione’ bekannt ist,[1] aber ihr Gegenstand fällt nicht zusammen mit dem, was diese Schrift behandelt. Das ist nach einer deutschen Version ihrer Titel die »Lehre vom Satz«,[2] genauer gesagt, von den Teilen und Formen eines Aussagesatzes. Dafür wäre heute die Logik oder eine Syntaxtheorie in der Linguistik zuständig. Gegenstand der Hermeneutik als Teilfach derPhilosophie und anderer historisch-philologischer Disziplinen ist aber, weiter ausgreifend, das Verstehen von Rede und Text im allgemeinen sowie – nötigenfalls – deren Auslegung.
Was hier »Rede und Text« heißt, firmierte in jener Schrift als »λόγος [lógos]«, lateinisch meist mit ‘oratio’ wiedergegeben.[3] Nicht jeder λόγος, wußte Aristoteles (384 − 322 v. Chr.) , sei ein »apophantischer«, also ein aussagender, der etwas als ›seiend‹ oder bestehend deklariere, mithin wahr oder falsch sei; für ein Gebetz. B., da es »weder wahr noch falsch« sei, gelte es nicht. Solche Verlautbarungen, fährt er fort, hättenRhetorik oder Poetik zu studieren, in der vorliegenden Schrift beschränke er sich auf den Aussagesatz, denλόγος ἀπο- φαντικός [lógos apophantikós], Ockham (c. 1288 − 1347) hätte gesagt: die oratio enuntiativa.[4] In der Dialektik alias Logik, mag die Beschränkung, wie auch Ockham fand, sinnvoll sein. Die ›Idee‹ einerallgemeinen Hermeneutik (Hermeneutica generalis), die das Verstehen von Rede und Text im allgemeinen thematisiert, erfordert es jedoch, die Schranke aufzuheben.
Nun gibt es den allgemeinen Text so wenig wie das allgemeine Dreieck als gezeichnete Figur.[5] JedeAuslegung gilt einem besonderen, auf seine Art speziellen Text. Wenn aber die Art oder Gattung eines Textesdie Standards setzt für dessen Auslegung, steht zu erwarten, daß es – mindestens – so viele Weisen der interpretatio gibt, wie Textgattungen oder -arten zu unterscheiden sind. Das legt eine Differenzierung derHermeneutik in diverse Spezialhermeneutiken nahe. Als solche sind in der europäischen Tradition am bekanntesten:
- die juristische Hermeneutik als Methodenlehre der Auslegung insbesondere von Gesetzestexten und
- die in der Theologie gepflegte Bibelhermeneutik.
Da sowohl Gesetzwerke wie auch die Heilige Schrift der Christen in der Tat »ganz besondre« Texte sind,[6] ist kaum verwunderlich, daß für deren Auslegung eigene Methodenlehren schon lange entwickelt waren, bevor dafür in der Frühen Neuzeit der Name‘Hermeneutik’ in Umlauf gebracht wurde.[7] In diesen Fällen zeitigte die Auslegung nämlich in Gestalt vonGerichtsurteilen oder dogmatischen Entscheidungen der Kirche regel- mäßig Folgen, die, jedeTextinterpretation hinter sich lassend, das Leben von Menschen dramatisch änderten oder sogar beendeten,was auf die Wirkung poetischer Literatur nur ausnahmsweise – wie bei allzu empathischer Lektüre der Leiden des jungen Werthers – zutrifft. Im Hinblick auf Texte, die weder im Sinne der Bibel noch in dem eines Corpus iuris als kanonisch anzusehen sind, liegt es unter anderem nahe, zwischen faktualen und fiktionalen Texten zu unterscheiden, zwischen
»Sachbuch« und »Belletristik«, wie die Rubriken der wöchentlichen Bestsellerliste im Nachrichtenmagazin Der Spiegel überschrieben sind:
- Faktuale Texte, also Sachbücher und natürlich auch Reportagen stehen unter dem Anspruch zu »sagen, wasist«,[8] h. darzustellen, was wirklich geschehen oder der Fall ist. Mit Fug und Recht kann deshalb diesogenannte Wahrheitsfrage an sie gerichtet werden: die Frage, ob es tatsächlich so ist, wie der Textsagt, daß es sei – was Aristoteles offenbar als konstitutiv für alle Aussagesätze ansehen wollte.
- Fiktionale Texte, die wir meist der schönen Literatur alias Belletristik zurechnen, stehen nicht unter diesemAnspruch, sondern nutzen eine – in der Regel unausgesprochene – Lizenz, Sachverhalte sowie Personen und deren Taten oder Erlebnisse zu fingieren.
Gegenüber einem Fiktionalen Text ist die Wahrheits- frage folglich deplatziert – möchte man meinen. Eine Alternative zu der als Beurteilungsmaßstab offenbar irrelevanten Wahrheit scheint an deren Stelle, da solche Texte ja zur schönen Literatur gehören, die Schönheit zu sein.
Was Schönheit ist, dürfte kaum leichter zu beantworten sein als die berüchtigte Pilatusfrage: »Was ist Wahrheit?«[9] Daher gewännen wir wenig, wenn wir die Wahrheit durch die Schönheit ersetzten, was freilich ohnehin nicht angängig ist, weil der Begriff der Wahrheit auch im Hinblick auf Fiktionale Texte unentbehrlichbleibt, über die wir fürderhin wollen sagen können, daß nicht alles, was darin wie eine Tatsachenbehauptungvorgebracht wird, wahr ist. Umgekehrt ist nicht alles, was in einem Fiktionalen Text zu lesen steht, einfach nurfalsch. Wären die in Sagen, Fabeln, Märchen und Romanen präsentierten Schilderungen und Beschreibungen nicht einmal wahrheitsfähig, hätten wir kaum eine Vorstellung davon, wie die Welt eingerichtet sein müßte, falls sie wahr wären, und verstünden gar nicht, was da erzählt wird. Abgesehendavon berichten viele fiktionale Texte außer von ›frei erfundenen‹ Begebenheiten von manchem, dem wir denStatus einer Tatsache ungern absprechen würden. Den Fiktionen können also faktuale Spurenelemente beigemengt sein. Das alles ist – wahrlich – nicht neu. Die Musen bei Hesiod ( fl. c. 700 v. Chr.) drückten eseinmal so aus:
Wir wissen viel Trügerisches zu sagen, das Wahrem nur ähnelt, wissen aber auch, wenn wir wollen,Wahres zu verlautbaren.[10]
Wie das Nebeneinander fiktionaler und faktualer Teile in einem Text zu begreifen ist, bliebe auch dann eine unabweisbare hermeneutische Frage, wenn wir außer Betracht ließen, daß die schöne Literatur immer wieder– und womöglich zum Mißfallen der Musen Hesiods – philosophisch sozusagen ›kontaminiert‹ wurde.
»Romane und Philosophie … gleichermaßen«
Über den alten Beineberg, der als junger Offizier der englischen Armee in Indien gedient hatte, erfahren wir in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß:
Romane und Philosophie verachtete er gleichermaßen.[11]
Als Attitüde einer Person vom Typ des alten Beineberg mag das nicht sonderlich bemerkenswert sein: eben die erwartbare Einstellung eines Militärs um 1900. Falls es aber philosophische Romane wirklich gibt, sollten alle, die nur eins von beiden verachten, Romane oder die Philosophie, das andere dagegen schätzen, die Anlage ihrer Präferenzen lieber noch einmal überdenken. Soll es Verachtung sein, halten sie es am bestenwie der alte Beineberg: »Romane und Philosophie … gleichermaßen.« Dasselbe träfe freilich für dieWertschätzung zu. Einer solchen Gleichbehandlung scheinen indes die Gattungsmerkmaleentgegenzustehen, die für Romane und philosophische Werke jeweils als typisch gelten:
- Was immer ein Roman außerdem sein mag, er ist, so Abel Chevalley (1921, 1),
une fiction en prose d’une certaine étendue [,]
und die Lizenz zum poetischen Fingieren, von der eine Romanerzählung Gebrauch macht, ist prinzipiellunbeschränkt, so daß nichts, was darin als Tatsache hingestellt wird, ebendeshalb für eine solche zu halten ist. Was »Berufserzähler« täten, fragt Musils Ulrich den Sektionschef Tuzzi und beantwortet die nur rhetorisch gestellte Frage gleich selber:
Sie erzählen etwas, das es nicht gegeben hat: so, als ob es das gegeben hätte.[12]
Das ist eine nahezu perfekte moderne Paraphrase des ersten Halbsatzes in dem zitierten Bekenntnisder Musen Hesiods.
- Was immer ein philosophisches Werk sonst noch sein mag, als wissenschaftlicher Text steht es unter dem Anspruch, »Wahres zu verlautbaren«. Zwar ist niemals alles, was solche Texte als Faktum hinstellen, eo ipso eine Tatsache, aber so soll es sein, und wer die Verpflichtung bei der Niederschrift eines solchen Werks mißachtet, verletzt allem Anschein nach eine für philosophische Texte konstitutive Norm.
Also widerstreitet die romantypische Fiktionalität dem Umstand, daß es »in der Philosophie wie in jederWissenschaft um Wahrheit [geht]«, wie Ernst Tugendhat (1976, 13) das formuliert hat. Wer das akzeptiert,wird die Philosophen des 18. Jahrhunderts gut verstehen, die denjenigen ihrer Vorgänger, deren Systeme siefür abwegig hielten, gerne nachsagten, sie hätten doch nur ›philosophische Romane‹ verfaßt.[13] An gewissen viel- besuchten Orten lesen wir inzwischen allerdings, Fiktionale Erzählwerke mit einem philosophischen Anspruch seien eine genuine Errungenschaft gerade diesesJahrhunderts, das oft als eines der ›aufklärenden‹ Vernunft beschrieben wird:
Le c o n t e p h i l o s o p h i q u e , genre littéraire né au xviiie siècle, est une histoire fictive, critique de la société et du pouvoir en place pour transmettre des idées, concepts à portée philosophique: mœurs dela noblesse, régimes politiques, fanatisme religieux ou encore certains courants philosophiques. Il reprend la construction du conte et utilise certaines de ses formulations comme »il était une fois« , dansle but de se sous-traire à la censure qui sévit à cette époque. Il appartient, comme lui, au genre de l’apologue, court récit allégorique et argumentatif dont on tire une morale, et qui regroupe aussi, entreautre la fable et l’ utopie.
Voltaire est le principal auteur et Candide, Micromégas et
Zadig étant ses œuvres les plus représentatives.[14]
Daß die literarische Gattung des conte philosophique [15] oder des philosophischen Romans »im 18.Jahrhundert geboren« sei, ist selbst nur ein Märchen. Tatsächlich ist dieses Genre um einiges älter, wie einemspätestens einfallen sollte, wenn man, um es zu charakterisieren, auf das Stichwort ‘utopie’ zurückgreift. Dasist nämlich kein gewöhnliches Begriffswort, sondern der klüglich ersonnene Eigenname der fingierten Insel ineinem, nun ja, philosophischen Roman, der gut zweihundert Jahre vor Voltaire (1694 − 1778) erschienen war. Die Rede ist von jenem berühmten Buch, das auf seinem Titelblatt ausgewiesen war als
Ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia, nicht minder heilsam als kurzweilig zu lesen, […].[16]
Verfaßt von dem englischen Humanisten und Politiker Thomas More (latin. Morus) war es 1516 imniederländischen Leuven erstmals gedruckt worden. Weder an dem philosophischen Inhalt, den dieser libellusvere aureus in sich birgt, noch an dessen Status als Roman kann der geringste Zweifel bestehen.
Wie die Zahl der in kurzer Zeit folgenden Nachdrucke eindrucksvoll belegt, war das Erscheinen dieses Buchs ein europäisches Ereignis, wozu der Umstand, daß es lateinisch verfaßt war, nicht wenig beigetragenhaben wird. Seine Resonanz war so einstweilen zwar auf den gelehrten Teil der Leserschaft beschränkt,aber Übersetzungen in die ›Volkssprachen‹ ließen nicht lange auf sich warten. Während des 17. Jahrhundertserschienen dann noch mehrere Bücher, die offensichtlich Variationen des Musters waren, das Morus mitseiner Utopia vorgelegt hatte. Als Romane dieses Typs waren vor Voltaire allemal die folgenden zu registrieren:
- Tomaso Campanella, Civitas solis (»Sonnenstaat«), 1623
- Francis Bacon, Nova Atlantis (»New Atlantis«), 1638
- James Harrington, The Common-Wealth of Oceana, 1656
- Denis Vairasse, The History of the Sevarites or Sevarambi (»L’Histoire des Sevarambes«), 1675
Von deren Autoren hat jedenfalls einer, Francis Bacon, den Status eines Klassikers der Philosophie, und dasWerk von Vairasse genießt immerhin den Vorzug, von einem anderen derartigen Klassiker, nämlich GottfriedWilhelm Leibniz,[17] nicht überschwänglich, aber doch erwähnt zu werden.[18] Campanella und Harrington sind mit ihren Werken zumindest in einige Philosophiegeschichten eingegangen.[19] Alle vier verfaßten folglich philosophische Texte, die zugleich Prosafiktionen eines gewissen Umfangs waren. Quoderat demonstrandum. Auch Bacon hat als Titel statt eines Begriffsworts den Eigennamen einer Inselgewählt. Der ist in die offizielle Bezeichnung eines ›real existierenden‹ Ozeans eingegangen und nimmtgleichwohl auf eine Fiktion Bezug. Die älteste Quelle, in der eine Insel namens ‘Atlantis’ vorkommt,stammt von keinem Geringeren als Plato. In der »chambre d’ échos« (Roland Barthes), die betritt, wer dieerwähnten fünf Bücher aufschlägt, hallen drei Dialoge Platos wider: außer Timaeus und Critias, in denenvon der sagenhaften »Insel Atlantis« erzählt wird,[20] auch die Res publica, in der ein gewisser Sokrates sich weidlich ausläßt »über die beste Verfassung einer πόλις [pólis]« – oder wie es, darauf ersichtlich anspielend, im vollständigen Titel von Morus’ Utopia
heißt:
de optimo reipublicae statu
Wer nur einem einzigen Stichwort in der populären Kennzeichnung philosophischer Fiktionen – ich meine das Stichwort ‘Utopie’ – kurz nachsinnt, kann es also schwer vermeiden zu bemerken, daß das Mitteilenphilosophischer Inhalte im Rahmen von Prosafiktionen fast so alt ist wie die Philosophie selbst und keinesfallsjünger als die auf die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. datierbare literarische Hinterlassenschaft Platos. Wie wir sehen werden, ist es eher noch älter.
In Platos Dialogen – »Σωκρατικοὶ λόγοι [Sōkratikoì lógoi]« nannte sie Aristoteles[21] – redenverschiedene, historischen Personen nachgebildete Figuren nur »in Prosa«.[22] Akkurate Protokolle vonGesprächen, die tat- sächlich stattfanden, sind sie nicht. Die Akkuratesse ihres Autors galt vielmehr Prosafiktionen eines gewissen Umfangs. Manche davon sind im ›Dramensatz‹ eingerichtet, und das heißt –mit Sokrates’ Worten in Platos Res publica gesprochen – gerade so, wie «wenn einer, das vom Dichter zwischen den Reden auslassend, lediglich die Wechselreden stehen läßt.»[23]
Sie kommen uns daher vor wie Theaterstücke, die am besten ›mit verteilten Rollen‹ zu lesen wären, nichtwie Romane. Nichtsdestoweniger sind sie genau das, wenn wir Chevalleys Umschreibung zugrunde legen.
Robert Musil, der Verfasser eines monumentalen, Fragment gebliebenen, aber unbedingt ‘philosophisch’zu nennenden Romans des 20. Jahrhunderts, notierte als Einfall auf einem Zettel, der in seinem Nachlaß gefunden wurde, zwei Sätze: «Die Romane sind die sokratischen Dialoge unserer Zeit. In diese liberale Form hat sich dieLebensweisheit vor der Schulweisheit geflüchtet.»[24]
Der erste der beiden Sätze ist – ob Musil das bewußt war oder nicht – auch umkehrbar:
- DiesokratischenDialogewaren– selbstverständlich
avant la lettre – die Romane ihrer Zeit.
Was die Flucht der »Lebensweisheit vor der Schulweisheit« angeht, ließe sich ergänzen, daß schon Platomit der »liberale[n] Form« des Dialogs der friedlichen Koexistenz beider Weisheiten ein Medium gebotenhat. Diese philosophie- wie literaturhistorische Feststellung bedarf einer Erläuterung. Denn sie wirftmindestens zwei Fragen auf:
- Inwiefern ist es überhaupt erhellend, die Form des Dialoges ‘liberal’ zu nennen ?
- Welchen Stellenwert hatte die immer wieder bis zum Überdruß beschworene Differenz zwischen »Schul-« und »Lebensweisheit« in der europäischen Antike? Auf die erste Frage werde ich in einem gesonderten Ab- schnitt über Die Geburt der Prosa aus dem Geist der Faktualität (S. 14B) eingehen, auf die zweite unter der Zwischenüberschrift ›Nicht für die Schule, für’s Leben lernen wir‹ (S. 20B). Diesen beiden Abschnitten stelle ich aber zwei andere mit eigenen Zwischentiteln voran:
- eine Erinnerung an einige Daten zum Anfang der
europäischen Poesie (S. 11A)
und, dieser wiederum vorausgeschickt,
- eine Klarstellung, die das bisher noch nicht gefallene
Stichwort ‘Philosophenroman’ betrifft (S. 5B).
Letztere soll den in der Geschichtsschreibung der Philosophie zu selten gewürdigten Umstand beleuchten, daß sogenannte Philosophen sich anscheinend ›immer schon‹ auf ein Verhältnis nicht nur mit der Weisheit, wozu sie ihres Namens wegen gleichsam verpflichtet waren, sondern daneben – und sozusagen polyamorös– auch mit der schönen Literatur eingelassen haben.
Platos Res publica, nach den Leges der umfangreichste seiner Dialoge, ist der äußeren Form nachübrigens nicht wie ein Drama arrangiert, sondern als eine ausschweifende ›Ich-Erzählung‹ von derZusammenkunft einer Männerrunde, in der vor allem geredet wurde, am meisten von dem homodiegetischenErzähler namens ‘Sokrates’, der auch Reden und Erzählungen anderer, nicht leibhaftig anwesenderPersonen ausführlich wiederzugeben liebte. Das ist deshalb erwähnenswert, weil er damit in dereinrahmenden Diegese gar nicht selber dafür geradesteht, daß das von ihm Kolportierte so der Fall ist, wieer es erzählt. Seine eigenen in der Diegese erhobenen Ansprüche auf Wahrheit erstrecken sich im Zweifelsfall nur darauf, daß er unverfälscht wiedergibt, was er einst irgendwo ›aufgeschnappt‹ hat. — Ist aber nicht Platos Res publica ein Text, in dem wir einen deutlichen und oft zitierten Ausdruck der Überzeugungfanden, die in der Poesie erlaubte Fiktionalität wider- streite der bedingungslosen Verpflichtung derPhilosophie auf Faktualität? In der Tat hat Plato in der Res publica seinen Sokrates so etwas erwägenlassen. Das ändert allerdings nichts daran, daß es ein fingiertes Gespräch ist, in dem das geschieht undvon dem wir nur durch eine Prosafiktion von – in diesem Fall – beträchtlichem Umfang Kenntnis haben. Oftwird sie beschworen, Die sogenannte ›Dichterschelte Platos‹, wie sie angemessen zu beurteilen ist, werdeich weiter unten (S. 23B) in einem weiteren eigenen Abschnitt erörtern. Philosophie ohne philosophischeLiteratur wäre wie der Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark. Diesen Kalauer könnte ich wiederholen,um zu illustrieren, wie es wäre, wenn wir Platos Dialoge und alle mit ihnen intertextuell verknüpften fiktionalen Prosatexte aus der philosophischen Literatur ausschlössen. Eine kontra- faktische Überlegungwie diese genügt, um sich davon zu überzeugen, daß Wertschätzung und Verachtung, falls sie Romanenoder der Philosophie im allgemeinen gelten sollten, in der Tat auf beide »gleichermaßen« zu beziehen wären.[25] So zu argumentieren ist möglich, weil unter denen, die nach zünftigen Kriterien Beiträge zur Philosophie geliefert haben, mit z. B. Plato, Morus, Campanella, Bacon, Montesquieu, Voltaire oder Rousseaugenügend Autoren sind, denen das nicht zuletzt in fiktionalen Prosatexten gelungen ist. Zwar liegt es nahe,derartige von Philosophen verfaßte Fiktionen ‘Philosophenromane’ zu nennen, aber dieses Etikett ist nicht eindeutig. In der Klassischen Philologie hat man es als Terminus zur Bezeichnung einer sehr eigenen Art fiktionaler Prosatexte verwendet, die ich zunächst vor- stellen möchte, bevor ich mich, um die Anfänge der philosophischen Literatur keinesfalls zu verfehlen, dem
Anfang der europäischen Poesie widmen werde.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wird noch um weitere Abschnitte wachsen. Wir bitten um Geduld und hoffen auf Vorfreude!
[1] Aristoteles, De int. — Zur Aufschlüsselung der Siglen und Abkürzungen: s. u., S. 58 V., das Literaturverzeichnis.
[2] So in ders., Organon I/II.
[3] Ders., De int. 4−5, 16B 33 − 17A 22. Zur lat. Rezeption vgl. z.B. Ockham, Exp. in Periherm. Arist. 1.iii-iv, 389 V.
[4] Aristoteles, De int. 4, 16B 26 − 17A 4: “ἔστι δὲ λόγος […] ἀποφαντικός δὲ ἐν ᾧ τὸ ἀληθεύειν ἢ ψεύδεσθαι ὑπάρχει· οὐκ ἐν ἅπασι δὲ ὑπάρχει, οἷον ἡ εὐχὴ λόγος μέν, ἀλλ’ οὐτ’ ἀληθὴς οὔτε ψευδής. οἱ μὲν οὖν ἄλλοι ἀφείσθωσαν,– ῥ4ητορικῆς γὰρ ἢ ποιητικῆς οἰκειοτέρα ἡ σκέψις,– ὁ δὲ ἀποφαντικός τῆς νῦν θεωρίας.”
Ockham (ebd. 1.iv.1, 391) paraphrasierte und interpretierte: “Dicit igitur primum quod non omnis oratio est enuntiativa sed illa sola quae est vera vel falsa. Quodautem non omnis oratio sit enuntiativa patet, quia oratio deprecativa est oratio et neque est vera neque falsa, et per consequens non est enuntiativa. Et ideo talesorationes quae non sunt verae neque falsae, et per consequens non enuntiativae, relinquuntur, quia tales orationes magis spectant ad rhetoricam vel poeticam quam a dialecticam, quia ad dialecticam non pertinet considerare nisi de oratione enuntiativa tantum.”
[5] Vgl. Locke, EHU iv.vii.7, 596.
[6] Wie für den Mephisto in Goethes Faust (v. 1740: FA VII-1, 77) Blut »ein ganz besondrer Saft« ist. — Der Pentateuch (bei Martin Luther 1534 die »fünf BücherMose«) in der Bibel wurde übrigens, wie sein hebr. Name ‘Tora [ָרה ּתֹו]’ signalisiert, ursprünglich als Ge se t z bzw. »Weisung« (Martin Buber) aufgezeichnet.
[7] Einen Überblick über die Hermeneutik avant la lettre gibt Oliver Scholz ²2001, 17−34. Auf den Namen ‘hermeneutica’ sozusagen ›getauft‹ hat eineMethodenlehre der Interpretation – mit einem Seitenblick auf jene Aristotelische Schrift – der in Straßburg tätige lutherische Theologe Johann Conrad Dannhauer (1603-66); dazu Näheres: ebd., 36 V.
[8] Seit einem Kommentar seines Hg.s Rudolf Augstein (1989, 18), der so überschrieben war, ist das bekanntlich die selbstgewählte Leitmaxime desNachrichtenmagazins Der Spiegel.
[9] Nach Io 18 , 38: »τί ἐστιν ἀλήθεια; — quid est veritas [? ]« Mit dieser nachgerade philosophischen Frage brach Pontius Pilatus das Verhör, dem er den inhaftiertenJesus aus Nazareth unterzogen hatte, unziemlich brüsk ab, wenn wir dem Evangelisten glauben.
[10] Hesiod, Th. 27 f. : SMW 6 (Hvh. von mir) : ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, ἴδμεν δ’, εὖτ’ ἐθέλωμεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.
Zur dt. Übers., vgl. ders., Th., S 5 f.; Latacz ²2014, 101-03. Wie das in der späteren Literatur häufiger gebrauchte Adjektiv ‘ἀληθής’ (d. h. eigtl. unverhohlen, unverborgen) bedeutet griech. ‘ἔτυμος’ soviel wie ‘wahr(haftig)’ oder ‘wirklich’. Die Etymologie, die nach heutigem Verständnis sprachenüberschreitend dieEvolution von Wortgebräuchen erforscht, haben hellenistische Philologen einst als eine Lehre von der wahre n Bedeutung der Wörter kreiert. An diese –ihre »ursprüngliche Nennkraft«, wie Heidegger (1950, 85 = GA V 92) gesagt hätte – glaubt in der modernen historischen Sprachwissenschaft niemandmehr.
[11] Musil, Törleß, GWF II 27.
[12] ders., MoE i.91, GWF I 428.
[13] Darunter nicht zuletzt Voltaire: vgl. Schütt 1998, Kap. 1, Thern 2003. 27 − 79.
[14] url: https://fr.wikipedia.org/wiki/Conte_philosophique (15.01.2020 1 h mez). Nota bene: frz. ‘l’apologue’ bezeichnet die Fabel, nicht die Apologie (ἀπολογία), unter der wir eine Verteidigung verstehen.
[15] Zwar wird frz. ‘conte’ heute meist im Sinne von ‘Märchen’ gebraucht und verstanden, ursprünglich bezeichnet es aber, da ‘conter’ nun einmal das Erzählenbedeutet, eine Erzählung, i.b. freilich eine bloße Erzählung, wobei das Attribut ‘bloße’ den (potentiell) fiktiven Charakter des Erzählten markiert.
[16] Morus, Utop. R 7, die dt. Übers. ist von Gerhard Ritter; das Titelblatt der Ausg. Basel 1518 zeigt Abb. 1 auf dieser Seite.
[17] Vgl. Krohn, in: Höffe 1981, I 262-79; Poser, ebd., I 378−404.
[18] Leibniz, Théodicée i.10: GP VI 108.
[19] Vgl. für Campanella: Vorländer 1965, 45−48, 201-04 u.ö. ; für Harrington: Quinton, in: Kenny 1995, 340.
[20] Plato, Tim. 24e− 25d, Crit. 108e− 109a, 113c− 121c : WE VII 24 − 27, 218 f., 230-53.
[21] Aristoteles, Poet. 1, 1447B 11.
[22] Ebd., 1447A 26: »τοῖς λόγοις ψιλοῖς«; ‘ψιλός [psilós]’ bedeutet zu- nächst abgerieben, haarlos oder kahl ; dt. ‘Prosa’ ist entlehnt von lat. ‘[oratio] prosa ’ für dievorwärts ( prorsus=provertus) gerichtete Rede ; »ohne Metrum (ἄνευ μέτρου)« zu reden läßt Plato (Resp. x, 607d: WE IV 832) seinen Sokrates selberbekennen.
[23] ders., Resp. iii, 394b, WE IV 204: »ὅταν τις τὰ τοῦ ποιητοῦ τὰ μεταξὺ τῶν ῥήσεων ἐξαιρῶν τὰ ἀμοιβαῖα καταλείπῃ […].«
[24] Musil, GWF II 722.
[25] Daß es so viele schlechte Romane gibt, ist kein stichhaltiger Ein- wand. Lupenrein philosophische Werke, die keine Romane sind und doch nur die Note›schlecht‹ verdienen, werden ebenso fast tagtäglich mehr.
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Die Erde ist eine Scheibe. Zwei mal zwei macht vier. Viren gibt es nicht. Zucker kann Karies verursachen. Die Wirtschaften der Welt werden von einer unsichtbaren Hand zum größtmöglichen Glück aller gelenkt.
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Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Liegt im Dao das Gute Leben verborgen? Wo muss ich es dann suchen? Was ist das Dao überhaupt?