Welche Lieben brauchen Menschen? Welche können sie nicht vermeiden? Sollen wir überhaupt welche meiden?
Michael Hampe
Professor für Philosophie ETH Zürich

Liebe

Ein Mann sitzt allein in einer Kneipe. Er raucht, trinkt einen Wein. Man hört Gespräche im Hintergrund. Eine Frau: „Ich hab die Mutter gespielt, die ältere Schwester. Ich hatte praktisch einen Praktikanten zuhause, ich zog praktisch einen 30-jährigen auf. Warum diesen Typen, fragte ich mich.“

Männer sprechen lachend über die Vor- und Nachteile von „netten“ und „weniger netten“ Mädchen. „You do get better bitches, if you have a bitch.“

„Was ist Liebe?“ fragt der rauchende, melancholisch wirkende, Wein trinkende Mann. Er erinnert mich an Fernando Pessoa, den portugiesischen Autor des „Buchs der Unruhe“, der den Heiratsantrag einer Frau ablehnte, weil er sich ganz dem Schreiben widmen wollte, keinen Platz für Liebe neben der Poesie in seinem Leben sah. Er soll sich zu Tode getrunken haben. Ist ihm etwas entgangen? Vertreibt die Liebe die Unruhe, das Bedürfnis sich zu betäuben? Verschließt oder öffnet sie die Augen?

Ein junges Paar hockt nebeneinander am Strand, starrt aufs Meer. Sie scheinen sich nichts mehr zu sagen zu haben. Er reicht ihr wortlos seine Zigarette. Sie nimmt sie, ohne zur Seite zu schauen. Dann steht sie auf, schaut in die Sonne, lächelt ein wenig.

Ein Mann und eine Frau stehen im Supermarkt vor dem Milchregal und wischen sich auf ihren Handys durch das Tinder-Angebot. Sie liken die Bilder voneinander, ohne zu merken, dass das Original des Fotos, das sie gerade anschauen, neben ihnen steht. Dann wischen sie weiter, suchen neue Bilder.

Ein Mann läuft mit einem Blumenstrauß durch den Regen. Er klingelt an einem Mietshaus. Niemand öffnet. Regentropfen reißen Blütenblätter von seinem Strauß, während er mit durchnässten Schuhen vor dem Haus wartet.

Ein altes Paar sitzt schweigend auf einer Bank unter großen Bäumen am See.

Ein junges Mädchen steht an der Kante des Dachs eines Hochhauses. Es scheint zu weinen. Gleich wird es sich hinabstürzen. Vögel fliegen auf und kreischen. Ihre Rufe hallen von den Wänden der Hochhäuser wider.

Ein Obdachloser spricht zu einer kopflosen Schaufensterpuppe; sie solle mit ihm mitkommen. „Komm nachhause.“

Ein Fensterputzer und ein Büroangestellter in einem Hochhaus drücken die Lippen auf die gleiche Stelle der Scheibe, durch die sie sich ansehen.

Ein flüsterndes Paar. Sie fragt: „An welche Farbe denkst Du, wenn Du an Dich denkst?“ Er: „Blau.“ Sie kichert und fragt: „An welche Farbe denkst Du, wenn Du an mich denkst?“ Er: „Rot.“ Sie kichert wieder: „An welche Farbe denkst Du, wenn Du an uns denkst?“ Er schweigt.

Diese und andere Szenen von Paaren und Einsamen zeigt der Film „The Windshield Wiper“ von Alberto Mielgo. Es ist ein Film über die Suche nach Liebe zu einem anderen Menschen, das Finden und Verschwinden dieser Lieben und der geliebten Menschen. Meist ist dabei eine erotische Spannung im Spiel. Doch nicht immer. Es gibt die Liebe zwischen Freunden, denen nichts Geschlechtliches durch den Kopf geht, die aber vielleicht mehr „füreinander einstehen“ können als ein Liebespaar. Es gibt die Liebe von Eltern zu ihren Kindern, die manche für die stärkste und bedingungsloseste halten, weil sie keine Gegenliebe braucht.

Und einige lieben Gott oder die Welt. Spinoza sprach von einer „intellektuellen Liebe“ (

Amor Dei Intellectualis), einer Liebe ohne Sehnsucht, ohne Begehren, ohne Furcht vor Verlust. „Eros“, „agape“, „philia“ – das sind verschiedene griechische Wörter für Liebe: für die brennende Liebe, bei der einem der Partner fehlt, für die herabneigende Liebe eines Wesens zu einem anderen, die nach nichts verlangt, für die Freundschaft, auf die man sich verlassen kann.

Welche Lieben brauchen Menschen? Welche können sie nicht vermeiden? Sollen wir überhaupt welche meiden? Was ist der richtige Umgang mit der Liebe? Kann es in der Liebe überhaupt „richtig“ und „falsch“ geben? Arundhati Roy meinte in „Der Gott der kleinen Dinge“, das alle Unterwerfungsverhältnisse zwischen Menschen daher rühren, dass sie ihr Lieben zu regulieren versuchten. Ist Liebe ein Machtspiel, bei dem die Beteiligten ausprobieren, wer wen verführen kann, wer wen dringender benötigt, wie es die „Gefährlichen Liebschaften“ von Pierre Ambroise François Choderlos de Laclos nahezulegen scheinen?

Manche werden verrückt oder gehen zugrunde durch eine Liebe, fangen an zu trinken, weil sie verlassen worden sind, geraten in die Obdachlosigkeit, weil sie keinem Beruf mehr nachgehen können durch die Trauer, die sie erfasst hat. Andere werden euphorisch durch die Verliebtheit, sind wie im Rausch, meinen zu allem fähig zu sein, fühlen sich unsterblich. Wieder andere finden den „Sinn des Lebens“ in der „Liebe ihres Lebens“. Hat hier jemand Recht? Hat hier jemand Unrecht? Was passiert hier überhaupt? Ist die Liebe zur Welt das Lebensziel, das die Weisen wie die Stoiker und Spinoza gefunden haben? Und wie kann man die Welt lieben?

Wie viele Herzchen verschicken Sie denn so am Tag und an wen eigentlich?

MH, Zürich 2023

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Albumtext
Wahrheit

Die Erde ist eine Scheibe. Zwei mal zwei macht vier. Viren gibt es nicht. Zucker kann Karies verursachen. Die Wirtschaften der Welt werden von einer unsichtbaren Hand zum größtmöglichen Glück aller gelenkt.
Wahrheiten und Unwahrheiten bestimmen unser Leben. Welche Wahrheiten sind überhaupt relevant? Welche Illusionen gefährden eine gelungene Lebensführung?

Albumtext
Tod

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Podcast
Alles ist Nichts - Einführender Podcast zum Daoismus (German)
Podcast mit Kai Marchal über den Daoismus, seine Hauptwerke und Hauptvertreter.
Liegt im Dao das Gute Leben verborgen? Wo muss ich es dann suchen? Was ist das Dao überhaupt?

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