Krieg
Der Kriegsgott
Yura sieht wie ein typischer Ukrainer aus, so scheint es mir. Er hat hellblondes Haar, breite Schultern, einen dichten Bart, riesige Hände und tiefe, vertrauensvolle braune Augen. Yura ist ein einfacher und ehrlicher Mensch. Er sagt, was er denkt, und er denkt, was er sagt.
Yura, glaube ich, tut keinem Menschen Unrecht.
Er fährt wie ein Irrer. Ohne mit der Wimper zu zucken, rast er mit 120-140 km/h auf der gegenüberliegenden Fahrbahn ukrainischer Landstraßen an langen Lastwagen und antiquierten und langsamen sowjetischen Radas vorbei. Ich sehe jedesmal deutlich die Lichter der anderen Autos, die uns auf selber Spur entgegen- und mit jeder Millisekunde die verstreicht, immer näher kommen. Aber ich fürchte mich nicht. Ich vertraue Yura. Ich muss ihm vertrauen. Ich muss ihn tun lassen, was er am besten zu können scheint. Meine Übersetzerin, Oksana, ebenfalls Ukrainerin, hat fürchterliche Angst. Jedes Mal, wenn Yura Gas gibt, hält sie sich an ihrem Sitz, oder was immer sie gerad ergreifen kann, fest.
Das ist unerträglich, sagt sie mir.
Dann schaut sie nach rechts, aus dem Fenster, weil sie nicht verkraften kann, was unmittelbar vor ihr passiert. Ich lächle sachte in mich hinein und blicke weiter in die blendenden Lichter, die uns entgegenkommen.
Als der Krieg in der Ukraine im Februar 2022 ausbrach, war ich schockiert. Zwei Jahre lang hatte ich bereits Forschung zum Krieg betrieben, aber nie war mir in den Sinn gekommen, dass Russland in die Ukraine einmarschieren würde. Neben dem Schock war da noch etwas Anderes. Es war mir peinlich. Nicht nur, weil Forscher zumindest ansatzweise wissen sollten, was die Zukunft bringen könnte – auch wenn der Krieg ein Ding der Ungewissheit bleibt, wie Clausewitz sagen würde – sondern auch, weil ich den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, der sich mit dem Euromaidan verstärkte, völlig unterbewertet hatte. Westeuropäische Eitelkeit. Mir schien, dass ich der Ukraine etwas schuldig sei. Ich konnte nicht einfach daneben stehen und zuschauen. Es war nicht genug, etwas Geld zu spenden, über den Krieg zu debattieren oder auch zu streiten. Ich musste irgendwie daran teilnehmen.
Aber was sollte ich tun? Mich der ukrainischen Fremdenlegion verschreiben und kämpfen? Lächerlich! Diesen Gedanken konnte nicht einmal ich selbst ernst nehmen.
Du würdest den Ukrainern eher zur Last fallen, als dass du ihnen helfen würdest, sagte mir ein Freund, ein hochrangiger Offizier der US-Armee und Absolvent von West Point.
Er hatte Recht. Aber wie konnte ich helfen?
Warum schreibst du nicht darüber? Das ist eine Fähigkeit, die du einbringen kannst. Nutze sie!
Stimmt. Ich könnte tatsächlich über den Krieg schreiben, damit zu meinen journalistischen Wurzeln zurückkehren und eine Pause vom akademischen Elfenbeinturm einlegen.
Es war also beschlossene Sache. Ich würde anfangen, über den Konflikt zu schreiben, auf irgend eine mir mögliche Weise. Aber nicht aus der Ferne. Kein Lehnstuhl-Journalismus.
Ich plante also meine Reise in die Ukraine und lernte dabei Yura und Alla kennen.
Beide kümmerten sich um mich, organisierten meine Reise und vermittelten alle Interviewpartnerinnen für mich. Beide arbeiten für eine gemeinnützige christliche Organisation, die Frauen in jeder erdenklichen Weise hilft: Schwangerschaft, Abtreibung, Depressionen, was immer nötig ist. Ich habe ihre Klientinnen interviewt, um deren Geschichten zu erzählen und zu erfahren, was sie im letzten Jahr während der russischen Angriffe und der Besetzung erlebt haben.
Ilona hat fünf Kinder zu versorgen und musste ihre Schwiegereltern verlassen, die immer noch unter russischer Besatzung leben. Nataschas zwei Brüder kämpfen an der Front, ebenso wie ihr Vater, der inzwischen, wie ich von Alla erfahren habe, in einem Krankenhaus in Saporischschja liegt. Anastasia und Julia sind aus dem Osten geflohen, mussten alles zurücklassen – das zerstörte Haus, die Verwandten, die Fotoalben der Familie – können es aber kaum erwarten, wieder nach Hause zurück zu kehren. Und dann ist da Katja. Sie hatte eine Fehlgeburt, während sie verzweifelt auf ein Lebenszeichen ihres an der Front kämpfenden Mannes wartete.
Irgendwann während der Interviews, wenn der Kontext passte, stellte ich immer die selbe Frage: Würdet ihr Sagen, dass auch ihr hier kämpft, obwohl die wirklichen Kämpfe und Schlachten im Osten an der Front stattfinden? Alle haben zumindest mit einem Kopfnicken geantwortet. Ja.
Sie alle kämpfen auf ihre eigene Art.
Während der ersten beiden Tage meines Aufenthaltes hatte ich ebenfalls auf meine Weise zu kämpfen: nämlich mit mir selbst. Weil ich die Situation nicht richtig einschätzen konnte, habe ich mich immer wieder gefragt: Warum musstest du in die Ukraine gehen? Warum? Warum bin ich nicht zu Hause geblieben, in der sicheren Schweiz, in meiner schönen Wohnung, in die ich gerade eingezogen war? Musste ich wirklich eine Rolle in diesem Krieg einnehmen? Musste ich wirklich mitmachen? Was, wenn die Russen ihre grosse Offensive starten, die in aller Munde war? Was ist, wenn ich von einer Bombe getroffen werde? Ich befand mich im Westen des Landes, in Lemberg, Chmelnyzkyj und Czernowitz. Dort war ich verhältnismäßig sicher, aber dennoch konnte es passieren, dachte ich bei mir. Im Krieg weiss man nie, was als nächstes passiert, lehrt Clausewitz.
Dann erlebte ich meinen ersten landesweiten Luftalarm. Ein lautes und beunruhigendes Geräusch, welches von meinem Telefon und von den Strassen her kam, weckte mich um 9 Uhr morgens. Eigentlich war ich darauf vorbereitet. Meine Tasche war immer so gepackt, dass ich höchstens 2 Minuten brauchen würde, um mein Zimmer zu verlassen. Meine Freunde, die schon einmal in der Ukraine gewesen waren, hatten mich auf ein solches Ereignis vorbereitet. Yura und Alla erzählten mir, dass die Bombardierungen im Westen des Landes in der Regel die Energieinfrastruktur und eher selten Zivilisten treffen. Ich wusste das alles, aber trotzdem waren es für meinen Geschmack zu viele Wenns und Abers, zu viele Wahrscheinlichkeiten. Also ging ich runter zur Rezeption, um Klarheit darüber zu erlangen, was vor sich ging.
Als ich nach unten kam und mich der Rezeption näherte, sagte die Rezeptionistin vorausschauend:
Frühstück im ersten Stock.
Ich sah sie lächelnd an.
Nein, nein, was ist mit dem Luftalarm?
Ah, keine Sorge, winkt sie ab und lacht.
Da wusste ich, dass alles in Ordnung war, also ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich schlafen. Am Nachmittag, während der Luftalarm noch immer aktiv war, besichtigten wir die Stadt Czernowitz. Ich war recht entspannt und habe mir über den Luftalarm Gedanken keine gemacht. Der Höhepunkt der Besichtigung war das Geburtshaus von Paul Celan.
Später am Nachmittag hatte ich noch zwei weitere Interviews und danach war ich erledigt, völlig ausgelaugt.
Dann bekomme ich plötzlich eine Nachricht von einem Verwandten, der mit mitteilt, dass ich die Ukraine sofort verlassen soll, weil die Russen den Westen des Landes bombardiert haben. Ich wusste das natürlich schon, ich war ja dort, aber trotzdem hat mich die Nachricht ein wenig aus der Fassung gebracht. Wusste mein Verwandter etwas, was mir unbekannt war? Ich überprüfte alle mir bekannten Telegram-Kanäle und Nachrichten-Websites, um festzustellen, ob die Russen mehr als sonst bombardiert hatten oder ob ihre Offensive begann, von der alle sprachen.
Nichts von alledem. Nichts. Niente.
Ich fand heraus, dass die Bomben unter anderem in Lemberg und in Chmelnyzkyj fielen. Lemberg hatte ich am Vortag besucht, Chmelnyzkyj würde ich am nächsten Tag besuchen. Zögerlich fragte ich meine Übersetzerin: Wird es sicher sein, morgen nach Chmelnyzkyj zu fahren?
Sie sah mich an und sagte:
Ja, ich glaube schon.
Dann durchstöberte ich wieder Telegrammkanäle.
Geht es dir gut?
Ja, ja. Ich habe nur nachgedacht, wegen des Luftalarms und so.
Ich verstehe. Mach dir keine Sorgen. Es wird schon nichts passieren. Am Anfang war ich auch besorgt, aber man gewöhnt sich daran und die Wahrscheinlichkeit, dass wir getroffen werden, ist sehr gering.
Sie hatte Recht. Sie hat mich zur Vernunft gebracht. Mein Verwandter war wohl nicht gut informiert. Ich schon, denn ich war bei den Experten.
Ich ging zurück in mein Hotel, immer noch sehr wütend auf meinen Verwandten, und ich brauchte einige Zeit, um mich zu beruhigen und zu erkennen, dass Wut ein emotionaler Zustand war, den ich zu diesem Zeitpunkt nicht brauchte. Ich musste ruhig bleiben. Ich musste einen klaren, funktionsfähigen Verstand haben. Ruhe bewahren! Keep calm and carry on, wie die Engländer sagen. Endlich verstand ich den Sinn dieses Satzes!
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich mich in einem Kriegsgebiet befand, obwohl ich die Bombardierungen nicht einmal hörte. Mir war freilich immer bewusst, dass ich mich in einem Kriegsgebiet befand, aber jetzt wurde es mir wirklich klar.
In Friedenszeiten, in denen man keine plötzliche Gefahr zu befürchten hat, beherrschen Gewohnheiten deinen (sicheren) Alltag. Keine unmittelbare Bedrohung ist vorhanden. Mögliche Handlungsweisen können bewertet, abgeschätzt, verändert werden. Gedanken können beiseite geschoben und später aufgegriffen werden – was zur Hölle? Entscheidungen aufzuschieben ist der Normalzustand. Es ist egal. Es drängt nicht.
Aber in Zeiten des Krieges oder wenn wirklich Gefahr droht, muss alles im Voraus geplant werden, und ja, man kann bewerten, abschätzen, abändern, aber zu keinem Zeitpunkt kann man Entscheidungen bei möglichen Schicksalsschlägen einfach beiseite schieben und später wieder aufgreifen. Der Verstand muss messerscharf sein und die Aufmerksamkeit darf niemals zerstreut werden. Die eigenen Sinne müssen rundlaufen. Du musst stets wachsam sein und darfst die Ernsthaftigkeit der Lage nie falsch einschätzen.
Das sagt dir auch die ukrainische Luftalarm-App: Selbstüberschätzung ist deine grösste Schwäche.
Das ist die blanke Wahrheit.
Diese Erkenntnis offenbarte sich mir, als ich an einer Kreuzung stand. Ich musste nicht entscheiden, ob ich nach links oder rechts abbiegen, ob ich vorwärts oder lieber rückwärts zu gehen wollte. Ich stand vielmehr vor der Entscheidung, weiter nach Osten, an die Front zu gehen, länger im Kriegsgebiet zu bleiben, sich möglicherweise in Gefahr zu begeben, ODER: nach Hause zurückzukehren, aus der Gefahrenzone zu fliehen, zurück in die Sicherheit, in meine Komfortzone.
In solchen Momenten wird einem bewusst, dass die Realität keine fest Form aufweist; dass die Realität keine einfache Kausalkette von Ereignissen ist. Je nach eigenem Handeln realisiert sich ein Teil von ehemals vielen Möglichkeiten. William James hat einmal geschrieben: Glaube daran, dass das Leben lebenswert ist, und dein Glaube wird dir dabei helfen, diese Tatsache zu erschaffen. Glaube daran, dass Chmelnyzkyj die Reise wert ist, und dein Glaube wird dazu beitragen, die Tatsache zu erschaffen.
Wahrscheinliche Ergebnisse sind real. Sie sind nicht lediglich Möglichkeiten, sind nicht bloß virtuell, abstrakt oder ähnliches. Nein, sie umgeben und begleiten uns, wie Moleküle in einer Lösung, die darauf warten, zu kristallisieren. In diesen Momenten fühlt es sich so an, als ob alles passieren könnte. Es könnte sein, dass Gott oder ein anderes höheres Wesen einen Plan dessen hat, was passieren wird. Ein Wesen wie der Laplacesche Dämon: Wann und wo diese oder jene Bombe fallen und Menschen töten und Häuser und Spielplätze zerstören wird. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, ich weiss es einfach nicht, und doch weiss ich, dass in diesen Momenten, in Kriegszeiten, die Möglichkeiten so real werden, wie sie nur sein können. Handlungsmöglichkeiten sind da, sie bieten sich an, und jetzt, in diesen Momenten des Krieges, spürt man sie, man sieht sie, man weiß: Wenn ich jetzt in Panik gerate und weglaufe, bin ich dann in Sicherheit? Oder reagiere ich über? Wenn ich jetzt in Panik gerate und nicht weitermache, verliere ich dann ein wichtiges Interview, das ich für meinen Artikel brauche? Oder noch schlimmer, werde ich mein Leben in Gefahr bringen?
Gemäss Alfred N. Whitehead wacht Gott über alle Möglichkeiten dieser Welt. Er sieht alle ewigen Objekte, die platonischen Ideen, aber ich kann das nicht. Ich weiß nur, dass Gott alle Möglichkeiten kennt, aber ich nicht.
Aber mehr als das: Ich spüre Gott. Ich fühle ihn, denn er ist bedingt durch das, was ich tue. Ich bin direkt mit ihm verbunden, denn die Möglichkeiten, über die er wacht, hängen von meinem konkreten Handeln ab. Durch mein Handeln wird Gott am Leben erhalten, denn ohne mich hätten die Möglichkeiten keine Chance, sich zu verwirklichen.
Gott ist das, was du in diesen Momenten spürst. Das ist nicht der christliche Gott, oder der muslimische Gott, oder irgendein anderer Gott religiöser Vorstellung. Was du spürst, ist der Gott aller Möglichkeiten, der Gott aller Ereignisketten, aller möglichen Geschichten und Erzählungen, die geschehen könnten oder hätten geschehen können.
In diesen Momenten weißt du, dass Gott existiert.
Dieser Gott ist der Kriegsgott, über den Stephen Crane in The Red Badge of Courage so wunderschön schreibt, den er aber nur als Journalist kennengelernt hat, genauso wie auch ich.
Dies ist der Gott des Krieges, der seine «Ungeheuer und Drachen» schickt, dieses «rote Tier», dieser «blutüberströmte Gott», mit seinen «feurigen Augen» und schlaksigen «Armen» und gekrümmten «Beinen», mit seiner «roten Wut», dieses «rot-grüne Ungeheuer», mit «schrecklichen Zähnen», diese «riesige und grausame Maschine», mit «roten Flügeln des Krieges», «hoch fliegend», eine «Kreatur der Lüfte», «unheimlich», «brüllend», mit einer «schwarzen Wut».
Kein Gott der sich aus der eigenen Tiefe heraus gräbt, sondern ein Gott, der aus der Ferne nach mir langt – wie Whiteheads Gott. Weit weg und doch nah, weil seine langen, dürren Arme und krummen Beine sich ausstrecken. Ein Gott mit seinen brennenden Augen und scharf blitzenden Zähnen. Ein Gott, der mir auch nahe kommt, weil ich auf all das reagiere. Er lockt, wie ein Fischer, der darauf wartet, dass die Beute zu ihm kommt. Hin und wieder streckt er seine Hand aus, aber er drängt sich nicht auf. Er wartet. Er wartet auf meine Antwort, auf unsere Antwort. Meine Handlungen, meine Entscheidungen, meine Gedanken, die sich im Kreise drehen mögen, aber dennoch. Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung.
«Ich kann den Kriegsgott spüren.» bedeutet, dass ich eine Beziehung zu ihm aufbauen kann. Wir haben eine Beziehung, eine echte Beziehung. Wir sind verbunden. Er ködert, ich beiße an. Er ist die Potenzialität, ich bin die Wirklichkeit.
Der Kriegsgott ist immer da, und nur weil du ihn in diesem Moment nicht siehst oder fühlst, weil du «sicher» bist, bedeutet das nicht, dass er nicht anwesend ist. Such ein Jahr in der Geschichte der Menschheit ohne Krieg. Du wirst keins finden, denn der Kriegsgott lässt sich nicht einfach auslöschen. Wir halten ihn am Leben.
Der Krieg ist kein Phänomen, er ist kein Begriff und keine Idee. Er ist eine Erfahrung. Er hat nichts mit Vertrauen oder Glauben zu tun. Man muss nicht an den Kriegsgott glauben damit er real wird. Er ist etwas, das man spürt. Der Kriegsgott ist lokal, er ist in einem Raum aktiv. Ein Milieu, eine Umwelt.
Aber merke dir meine Worte: Der Kriegsgott bestimmt nicht dein Schicksal. Er trifft keine Entscheidungen für dich, und vielleicht tust du das auch nicht. Den Kriegsgott zu sehen, bedeutet zu erkennen, dass Möglichkeiten echt sind, dass Handlungsabläufe sich anders entfalten können als ursprünglich gedacht. Der Kriegsgott ist universell, aber gleichzeitig ist er auch konkret, ja persönlich.
Er ist der Meine. Mein Gott des Krieges! Er gehört mir. Wie Gollums Beziehung zum Einen Ring. Und doch weiß ich, dass dies nicht stimmt. Der Kriegsgott ist für alle da. Er ist zu groß, zu mächtig und zu umfassend, um mir allein zu gehören. Es liegt außerhalb meiner Kontrolle.
Der Kriegsgott lässt uns teilhaben. Man wird ein Teil von ihm. Von allem.
Teil von allem zu werden, bedeutet, sich mit dem Ganzen zu vereinen.
Es bedeutet, im Schopenhauerschen Sinne, mitzuleiden, sich verbunden zu fühlen.
Weil man weiß, dass das eigene Leben am Rande einer anderen Potenzialität, einer anderen möglichen Geschichte steht, weiß man, dass das Leben der anderen am selben Rand steht, stand oder stehen wird. Für immer. Der Kriegsgott aktualisiert sich unaufhörlich. Die Ereignisse kommen und gehen, kommen und gehen, immer fort.
Und wenn Menschen dir ihre Geschichte erzählen, erzählen sie dir, welche Potenzialitäten Wirklichkeit geworden sind. «Es war einmal vor langer Zeit.» Sie erzählen dir dann, welcher Handlungsverlauf sich in der Vergangenheit vollzog.
Aber sie erzählen dir auch, was hätte passieren können. Erzählen von einem möglichen Ausgang, einem fatalen Ausgang.
Wie Nathalie, die schnell aus dem Keller schlich, um sich in der Küche etwas zu essen zu holen, als eine Bombe in ihrem Vorgarten landete – BOOM. Nicht ganz. Die Bombe ist nicht explodiert. Aber was wäre, wenn die Bombe explodiert wäre? Wären sie und der kleine Marc in ihrem Bauch gestorben? Oder nur ihr Mann? Und was wäre, wenn Julia zu Hause gewesen wäre mit ihrem Neugeborenen als eine Rakete in ihrem Garten landete, explodierte und Wände und Fenster zerstörte?
Eine andere Geschichte, in einer anderen Realität, in einem anderen Universum, einem Paralleluniversum.
Was wäre, wenn ich am Tag der Bombardierung in Lemberg oder Chmelnyzkyj gewesen wäre? Und nicht im «sicheren» Czernowitz? Wer macht diese Berechnungen? Wer bestimmt die realen Ergebnisse, die Zufälle, wer entscheidet, ob die Bombe explodiert oder nur ruhig im Vorgarten liegt? Wer entscheidet zwischen den realen Geschichten und den möglichen Geschichten?
Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Möglichkeiten genauso real sind wie die wirklichen Ereignisse. Nur weil ein bestimmter Weg gewählt wird oder sich eine bestimmte Geschichte entfaltet, werden alle anderen möglichen Ergebnisse nicht unwichtig oder vernachlässigbar.
Ganz im Gegenteil!
Es sind die Kontraste zwischen den fast unendlichen Möglichkeiten, die dieses spezifische Ergebnis so besonders machen. Es kann ohne die anderen Möglichkeiten nicht existieren. Kann es einfach nicht. Und selbst nachdem wir diese spezifische Ereigniskette erlebt und durchlaufen haben, tragen die möglichen Ergebnisse im Rückblick immer noch dazu bei, das tatsächliche Ereignis zu gestalten. Die möglichen Geschehnisse sind real. Die Möglichkeiten sind wie ein Raum, unkristallisiert und doch vorhanden. Ein Raum, der die Kristallisation der sich entfaltenden Geschichte umgibt.
Frag den Kriegsgott. Wo er weiß, vermuten wir bloß.
Als ich eines meiner letzten Interviews während des Luftalarms beendete, stand Natascha, deren Vater und zwei Brüder an der Front kämpfen, auf, und anstatt mir zum Abschied die Hand zu schütteln, umarmte sie mich fest und dankte mir für das Interview. Kurz nach diesem Moment fiel mir ein, dass Nathalie mich zwei Tage zuvor in Lemberg am Ende des Interviews lange ansah und mir herzlich dankte.
Danke.
Oh, gern geschehen, sagte ich lächelnd.
Nein, wirklich, ich danke dir! Du hast mir geholfen, darüber nachzudenken, was geschehen ist.
Ich war überrascht und verwirrt. War ich so etwas wie ein Therapeut? Warum waren sie so dankbar?
Hilflos angesichts dieser Fragen ging ich zu Bett.
Am nächsten Tag, in Chmelnyzkyj, kurz vor meinen letzten beiden Interviews, frühstückten Alla, Yura, die Übersetzerin und ich gemeinsam. Wie üblich bestellte Yura Vorspeise, Hauptgericht und Nachspeise und aß anschließend die Reste der anderen auf. Während er sich das Essen in den Mund schaufelte, bat ich die Übersetzerin, Yura und Alla von meiner Beobachtung zu erzählen, dass meine Gesprächspartnerinnen für die Interviews dankbar zu sein schienen.
Yuras Kopf hob sich langsam von seinem Teller, er hörte aufmerksam zu und starrte mich dabei direkt an. Sein Blick: emotionslos, konzentriert, achtsam. Dann antwortete er ruhig auf Ukrainisch, selbstbewusst, seine Stimme in einer geraden kontinuierlichen, tiefen Tonlage. Ich habe alles verstanden, auch wenn ich kein einziges Wort verstanden habe.
Er sagte: Du bist bereits Teil dieses Krieges, weil du in die Ukraine gekommen bist. Wir kämpfen alle. Die Soldaten an der Front in der Kälte, die Flüchtlinge, die vor den Bombardierungen fliehen, wir, die Helfer im Osten und im Westen, und die Ausländer, wie du und andere, die hierher kommen, um die Ukraine in ihrem Kampf zu unterstützen.
Gänsehaut. Ich habe nur genickt, sprachlos, gedankenlos, ohne etwas zu sagen. Reine Zustimmung. Es klang einfach richtig. Er musste Recht haben. Es ist Yura. Wie könnte dieser Kerl falsch liegen oder mich gar täuschen wollen?
In mich selbst versunken, spricht die tiefe Stimme weiter zu mir. Es ist Yura. Ich weiss es. Ich kann ihn vor mir sehen.
Deshalb danken sie dir, weil du in dein Land zurückkehren und die Wahrheit darüber sagen wirst, was hier geschieht, und dass die Unterstützung für die Ukraine nicht abbrechen darf. Du bist jetzt Teil dieses Kampfes und gibst diesen Frauen Hoffnung.
Yuras Worte waren pure Weisheit. Dieser junge Mann, 24 Jahre alt und ohne Hochschulabschluss, lieh der Wahrheit seine Stimme und machte mir, dem Muttersöhnchen aus einem der reichsten Länder der Welt, klar, warum meine Reise in die Ukraine nicht bedeutungslos war. Er hatte Recht, ich war jetzt ein Teil dieses Krieges. Das war alles, was ich wollte, aber ich musste es von einem anderen Geist hören, und es war Yura, der diesen Geist verkörperte.
Auf dem Weg zurück nach Czernowitz rief mich Volodymyr an. Er ist Zahnarzt und spricht Deutsch, weil er eine Weile in München und Leipzig gelebt hat. Er entschuldigte sich dafür, dass er sich nicht mit mir treffen konnte. Wegen des Luftalarms und der damit verbundenen Stromausfälle muss er an den Wochenenden arbeiten, um seine Patienten zu behandeln. Wir unterhalten uns ein wenig und dann sagt er:
Sie müssen die Wahrheit darüber sagen, was hier passiert. Sie müssen sie erzählen, damit die Welt die Aggression sieht, glaubt, dass sie geschieht.
Ja, natürlich, sage ich. Wir reden noch ein wenig, dann legen wir auf.
Ich schaue aus dem Fenster und sehe schmutzige Straßen und unendlich weite Felder. Ich denke:
Was ist das für eine Besessenheit von der Wahrheit? Wen kümmert das schon! Ich habe gerade den Kriegsgott gespürt. Wahrheit ist relativ, sie ist nicht wichtig. Sie ist ein unbedeutender Aspekt im Vergleich zu der Wahrnehmung des Kriegsgottes.
Dann, Wochen nach meinem Besuch in der Ukraine, wird mir klar, was Wahrheit ist.
Sie ist Harmonie.
Wahrheit ist in der Tat die Anpassung der Erscheinung an die Realität, wie Whitehead sagen würde. Etwas ist wahr, wenn die Art und Weise, wie es uns erscheint, mit seiner Realität übereinstimmt, sich ihr anpasst. Die wahre Geschichte stellt dar, wie sie sich tatsächlich entfaltet hat, einschließlich der realen Ereignisse und Möglichkeiten.
Diese Geschichte ist eine Tragödie und auch eine Geschichte der Schönheit, des Abenteuers und des Friedens.
Freude und Unbehagen, Vergnügen und Schmerz, Lachen und Tränen, Mut und Angst.
Doch unterhalb der Geschichte liegt eine Harmonie, eine Harmonie der Verbindungen und Übergänge.
Die Geschichte zu erzählen, bedeutet, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit der Harmonie, einschließlich aller Verbindungen und Übergänge.
Mangelnde Wahrheit ist eine Einschränkung der Harmonie, wie Whitehead sagt. Wahrheit und Harmonie gehen Hand in Hand.
Im Geschichtenerzählen kann eine Harmonie der vielen Harmonien erreicht werden, die alles zusammenbringt. Frieden kann entstehen. Ruhe. Etwas zu Ende bringen. Bewältigung. Einen Punkt setzen.
Die Geschichte wird erzählt. Wir erzählen unsere Geschichte uns selbst und anderen.
Eure Geschichte, meine Geschichte, die Geschichte dieser Frauen, von Yura und Alla und meiner Übersetzerin. Alle Geschichten überschneiden sich.
Der Gott des Krieges betrifft uns alle.
Yura war der Weise, der mich all das verstehen liess.
ODF, Zürich 2023
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Die Erde ist eine Scheibe. Zwei mal zwei macht vier. Viren gibt es nicht. Zucker kann Karies verursachen. Die Wirtschaften der Welt werden von einer unsichtbaren Hand zum größtmöglichen Glück aller gelenkt.
Wahrheiten und Unwahrheiten bestimmen unser Leben. Welche Wahrheiten sind überhaupt relevant? Welche Illusionen gefährden eine gelungene Lebensführung?
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Liegt im Dao das Gute Leben verborgen? Wo muss ich es dann suchen? Was ist das Dao überhaupt?