Leben
In einem Schrank liegt ein Album mit Fotografien. Sie zeigen Menschen in drei Generationen. Auf einem Bild sind Personen zu sehen, die um einen ungefähr 60Jährigen herum gruppiert sind, der zwei Frauen an den Händen fasst. Vor ihm knien drei junge Frauen, eine davon erscheint wieder auf dem zweiten Bild. Sie ist vielleicht 18 Jahre alt. Ist sie mit ihrem späteren Mann zu sehen? Sie sieht verliebt aus. Dann ein Foto von einem Jungen, wie er mit einem Baby in einem Sessel sitzt. Sie lachen. Der Junge schaut in die Kamera, das Baby in eine andere Richtung. Vielleicht macht irgendwer einen Scherz, damit die beiden fröhlich auf das Bild kommen.
Tatsachen
Das Leben hat Daten. Es wird verwaltet, beurkundet. Mein Großvater wurde 1900 geboren und starb 1973. Mein Vater wurde 1913 geboren und starb 1975, meine Mutter kam 1930 auf die Welt und starb 2018. Sie haben alle den Zweiten Weltkrieg erlebt und unter ihm gelitten, mein Großvater und mein Vater als Soldaten, die in Hitlers Wehrmacht gekämpft haben, meine Mutter als Flüchtling. Im Karton mit dem Fotoalbum liegen auch „Familienbücher“ mit Geburts- und Heiratsurkunden und den Totenscheinen, die diese Daten festhalten.
Ein Kind wird mit einem Kaiserschnitt auf die Welt gebracht. Eine blutige Angelegenheit. Es schläft als es aus dem Bauch seiner Mutter geholt wurde. Der Chirurg gibt ihm einen Klaps. Es erwacht und schreit. Es wird der Mutter in die Arme gelegt.
Ich kann mich an den Tod meines Vaters gut erinnern. Er lag im Koma, atmete schwer. Dann erwachte er noch einmal, war ohne die Furcht, die ihn vorher geplagt hatte, verabschiedete sich freundlich von allen und starb. Ich bedaure, dass ich nicht dabei war, als meine Mutter starb. Ein paar Wochen vor ihrem Tod habe ich sie noch im Rollstuhl einen Waldweg hinter ihrem Pflegeheim entlanggeschoben. Danach haben wir ein Eis vor der italienischen Eisdiele in der Sonne gegessen.
Wir kommen auf die Welt, atmen, trinken, essen, urinieren, sondern Stuhl ab, schlafen, träumen und erwachen, lieben und hassen, werden krank und wieder gesund und irgendwann sterben wir und werden verbrannt oder in der Erde begraben.
Sinn
Die Biologie erklärt, was so abläuft, wenn wir atmen, trinken, essen, stoffwechseln, zeugen und sterben. Doch diese Abläufe sind nicht einfach biologische Tatsachen, denn wir erleben sie ja. Alles, was wir schön und hässlich finden, was uns freut und erschreckt, geschieht in diesem Fluss von Erlebnissen, der unser Leben ausmacht. Wolf Biermann schrieb 1977 das Gedicht „Das kann doch nicht alles gewesen sein“ über diesen Erlebnisstrom:
Das kann doch nicht alles gewesen sein
Das bißchen Sonntag und Kinderschreien
Das muß doch noch irgendwo hingehenDie Überstunden das bißchen Kies
Und abends in der Glotze das Paradies
Darin kann ich doch keinen Sinn sehenDas soll nun alles gewesen sein
Da muß doch noch irgendwas kommen – nein?
Da muß doch noch Leben ins Leben – ebenHe Kumpel wo bleibt da im Ernst mein Spaß?
Nur Schaffen und Raffen und Husten und Hast
Und dann noch den Löffel abgeben? Eben.Das soll nun alles gewesen sein
Das bißchen Fußball und Führerschein
Das war nun das donnernde Leben, ebenIch will noch ein bißchen was Blaues sehen
Und will noch ein paar eckige Runden drehen
Und dann erst den Löffel abgeben…eben…
In dem Gedicht kommt „Sinn“ vor: das Leben soll einen Sinn haben. Was könnte damit gemeint sein? Soll es auf ein Ziel hinauslaufen, ein anderes als den Tod, eine Leistung, ein Werk? Soll es wie ein Text auf irgendetwas anderes als es selbst verweisen? Vielleicht kommt es uns wie eine Geschichte vor. Denn wir können ja von unserem Leben erzählen und wenn wir alt geworden sind, können wir unser Leben erzählen. Ist es also eine Geschichte mit einer Moral? Wittgenstein schrieb in seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung1918 zu diesem Thema die folgenden Zeilen:
„6.52 Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.
6.521 Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden des Problems.
(Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser bestand.)”
Wenn wir das Leben als ein Rätsel betrachten, das gelöst werden musst oder als eine Geschichte, die einen Sinn jenseits ihrer selbst haben soll, als eine Reise, die an ein Ziel kommen muss, vielleicht enttäuscht es uns dann immer. Denn alle Antworten auf die vermeintlichen Rätsel des Lebens, alle Sinnangaben und Ziele erscheinen uns schal und trival. Meint Wittgenstein, dass diejenigen ein sinnvolles Leben führen, die es nicht mehr als ein zu lösendes Rätsel, als eine Geschichte, die auf etwas hinausläuft, begreifen können? Doch wie kann das gelingen? Oder ist die Vorstellung, dass uns „etwas“, eben das Leben, gelingen muss, damit es uns „sinnvoll“ erscheint, eine falsche? Turnübungen und Zirkusauftritte können gelingen, aber das Leben? Ist Einstein sein Leben gelungen, dem Massenmörder Fritz Hamann seines misslungen? Ist Jesus und Sokrates, die zum Tode verurteilt wurden, ihr Leben gelungen?
Beurteilungen
Wir beurteilen das Leben anderer Menschen und vielleicht werden wir unser eigenes Leben beurteilen, wenn wir sterben. Doch von welchem Standpunkt tun wir das und mit welchem Maßstab? Die Maßstäbe eines jungen Mädchens sind andere als die einer reifen Frau und die einer Greisin sind noch einmal verschieden von beiden. In welcher Perspektive erscheint das Leben wie es „wirklich“ gewesen ist?
Wir können unser Leben nicht von aussen betrachten wie der Cambridger Philosoph Raymond Geuss 2020 in seinem Buch „Who needs a World-View“ („Wer braucht eine Weltanschauung?“) zurecht festgestellt hat. Wir können nicht wissen, wie es sich für Einstein, Hamann, Sokrates und Jesus jeweils angefühlt hat, ihr Leben zu führen. Deshalb können wir auch nicht das Leben anderer Menschen beurteilen. Wir können sagen, dass Einstein freundlich war und höchst lehrreich für seine Mitmenschen, dass Fritz Hamann ein gefährlicher und grausamer Mensch gewesen ist und Sokrates und Jesus weise waren. Aber bedeutet das, dass ihnen das Leben gelungen oder misslungen ist? Die meisten von uns sind weder physikalische Genies noch Massenmörder und auch nicht weise. Hat es für unser Leben eine Bedeutung, wie andere es beurteilen?
Die meisten von uns leben auch für andere: für die, die sie lieben, um die sie sich kümmern. Manche leben gegen andere, wenn sie hassen und kämpfen. Doch sind das die Sinn stiftenden Kriterien für ein Leben? Erhält das Leben einen Sinn durch eine große Liebe oder durch die Sorge um die eigenen Kinder? Hat der Kampf, den die Soldaten der Alliierten gegen Hitlerdeutschland in Europa geführt und gewonnen haben, ihrem Leben einen Sinn gegeben? Ist deshalb das Leben derer, denen keine große Liebe begegnet ist, die keine Kinder haben, keine Schlachten schlagen oder sie verlieren bzw. „auf der falschen Seite“ kämpfen, sinnlos? Wäre es nicht eine merkwürdige Überheblichkeit das zu behaupten?
MH, Zürich
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