Ratschlag
Guter Rat ist selten - Schlechter häufig teuer
«Die Sophisten wissen also offensichtlich alles, so jedenfalls stellen sie sich ihren Schülern dar.» (Platon: Sophistes 233c)
Ob Platon mit «seinen» Sophisten den wirklichen Wanderlehrern gerecht wird, sie also nicht nur als literarische Projektionsfläche seiner Kritik zeichnet, ist eine Sache. Sie waren für ihn jedenfalls keine guten Ratgeber, sondern eher ausgefuchste Geschäftsleute. Spätestens mit Sokrates bzw. Platon ist man in der westlichen Philosophie aufmerksam auf die Probleme, die sich im Verhältnis von Lehrern/Lehrerinnen und Schülern und Schülerinnen auftun können. Deshalb hat der Platonische Sokrates ein Bedürfnis, gute von schlechten Ratgebern bzw. Lehrerinnen zu unterscheiden.
Es heißt oft, Sokrates habe die Philosophie als erster vom Himmel geholt und unter die Menschen gebracht, wo sie sich von da an um die richtige Lebensweise zu kümmern begann. Von der Naturspekulation zur Ethik sozusagen. Doch tritt ein Mensch als Lehrer eines anderen auf, scheint fast unumgänglich eine Hierarchie zu entstehen, die anfällig für Manipulation, Verführung und Ausnutzung ist. In diesem Sinne kritisiert der platonische Sokrates auch die Sophisten. Diese verkaufen sich als vermeintliche Meister und Lehrer des Wettstreits über die göttlichen und alle sonstigen Angelegenheiten zwischen Himmel und Erde. Auch für die Gesetzgebung und Regierungsangelegenheiten sowie für alle Künste überhaupt sind sie vermeintlicher Weise zuständig. (Platon: Sophistes, 232b-233c) Ihre Allwissenheit und Lebensweisheit seien jedoch nur Schein, eine Anmaßung, die eigentlich jeden blamieren müsste, der sich solcher übermenschlichen Ansprüche brüstet. Dennoch böten die Sophisten ihre täuschende und vor allem geldbringende Überredungskunst erfolgreich an die Menschen. (Ebd. 22d-223b, 226a, 233d-268d) Ihr Unterricht war wohl auch deswegen so begehrt, weil sie oft lehrten, wie man mit den richtig gewählten Worten erfolgreich Einfluss auf andere Menschen nehmen kann; wie man Menschen von der eigenen Sache überzeugt, von den eigenen Vorstellungen und Zielen, egal welcher Art diese auch sind. Das war zur Zeit der aufblühenden attischen Demokratie natürlich ein gutes Geschäft, denn vor der Volksversammlung und den Geschworenengerichten zählte vor allem eines: die gute, d.h. effektive Rede.
Was war am weisen Sokrates anders? Geld nahm er wohl nicht für seine «Lehren». In den platonischen Dialogen, weniger in den früheren, stolpert man nicht selten über Passagen, in denen seine Gesprächspartner als willfährige Deppen des Redemeisters auftreten: «Ja, oh mein Sokrates, gewiss oh mein Sokrates…» Daran erschöpft sich gelegentlich ihr Dialoganteil. Oft sieht man sieht Sokrates ein ironisches Spiel mit seinen Gegenübern treiben. Aber, eines kann man im nicht unterschieben: In seinen Schülern bzw. Gesprächspartnern bloße Echos seiner eigenen Anschauungen produzieren zu wollen. Wer etwas erwidern wollte, konnte es bei ihm wohl auch.
Shakespeare, Hamlet und kein Ende
Wie steht es heute um die Ratgeber?
«Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.» So Shakespeare. Tatsächlich begegnet einem dieses Zitat immer wieder als eine Art Beweisschlusspunkt für jedweden Nonsens. In Ratgeber-Büchern, die man heute in die sogenannte «Esoterik» einordnet und deren Fankreisen beruft man sich gern auf Shakespeare als eine Art Gewährsmann.
Doch taugt der englische Dichter überhaupt für diesen Zweck? War er ein Vorreiter der Homöopathie, des Gesichtlesens, des Ahnenchannelns per Anruf oder Kurznachricht? Genau genommen ist es nicht Shakespeare, sondern seine Figur Hamlet, die dieses berühmte Zitat äußert und im englischen Original ist nicht von Schulweisheit, sondern von «Philosophie» die Rede:
„There are more things in heaven and earth, Horatio, / Than are dreamt of in your philosophy.“ (Shakespeare, William: Hamlet 1.5 167-8)
Vielleicht müssten wir uns fragen, was Shakespeare bzw. Hamlet unter «philosophy» verstand? Wir müssten uns auch das Stück genauer anschauen, versuchen, Zusammenhänge darin zu verstehen. Aber darum geht es nicht. Das Zitat mit der Schulweisheit wird oft gebraucht, um Menschen in zwei Gruppen einzuteilen: Solche, die bemüht sind um ein tieferes oder auch höheres Wissen und solche, die einfach im Strom der aktuellsten Meinungen mitschwimmen oder vermeintlich wie Schafe irgendeinem Leithammel folgen.
Esoterik – Exoterik
Die esoterische Lehre ist im ursprünglichen Sinne des Wortes eine für einen «inneren» Kreis, während man mit «Exoterik» ein öffentlich zugänglich gemachtes Wissen bezeichnete. Insiderwissen und Outsiderwissen? Eingeweihte und Außenstehende?
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Bedeutungen der Ausdrücke gewandelt und mal wertet man einen Exoteriker als Unwissenden ab, mal ist er oder sie jemand, der sich um ein methodisch offengelegtes Wissen bemüht im Gegensatz zu einer Okkultistin.
Wer möchte heut schon gern als Okkultist bezeichnet werden, wer als Esoterikerin? Irrationale Geheimniskrämer, Leichtgläubige. Doch lässt sich diese Grenze tatsächlich einfach ziehen? Gibt es Klarheit darüber, wo das «seriöse» Wissen aufhört und wo der Unsinn anfängt?
Sind das die Worte eines Esoterikers?:
«Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.» (Wittgenstein, Ludwig: Tractatus-Logico-Philosophicus, 6.52 , Kursivsetzung MM)
Und hat uns der wissenschaftliche Fortschritt in irgendeiner Weise der Lösung unserer Lebensprobleme ein Stück weit nähergebracht? Wissen die Menschen heute besser als früher darüber Bescheid, was das Leben lebenswert, zu einem guten Leben macht? Führt nicht vielmehr der hohe Grad an Spezialisierung, der die Bedingung des Fortschritts zu sein scheint, in den wissenschaftlichen Disziplinen dazu, dass es zwar für jedes Detailproblem eine Spezialistin gibt, der ich als Laie zu vertrauen habe, jedoch niemand mehr das so genannte «grosse Ganze» im Auge zu behalten vermag, das vielleicht für ein gelingendes Leben verstanden werden müsste? Werden wir nicht unmündig, wenn wir die Behandlung eines jeden Problemchen an bezahlte Fachkräfte delegieren, wie Kant einmal anmerkt?
Ja, Nestroy hat doch Recht, wenn er sagt, dass der Fortschritt das an sich hat, dass er viel grösser aussieht als er in Wahrheit ist! Jahrhunderte des Forschens sind ins Land gegangen und noch immer müssen sich Menschen sorgen, Ängste durchstehen, werden krank, sind zornig und eifersüchtig, bisweilen gierig und arrogant, werden traurig und finden wenig Geborgenheit. Aus welchem Grund also sollte man den intellektuellen Betriebsamkeiten an den Universitäten und Forschungseinrichtungen das Recht zusprechen, über eine Grenze zwischen Sinn und Unsinn zu entscheiden, wenn es um Fragen der Lebensführung geht? Dahingehend äusserte sich 1984 auch schon Paul Feyerabend:
«Ich gerate schon seit langem in Wut, wenn ich sehe, mit welch überheblicher Arroganz viele Intellektuelle Vorstellungen beiseiteschieben, die ihnen nicht in den Kram passen, obwohl sie dem Leben vieler Menschen Inhalt und Sicherheit verleihen. Tausende von akademischen Rotznasen kassieren mit Wohlgefallen ihre grossen Gehälter ein, ohne Dankbarkeit, ohne ein Gefühl der Verpflichtung jenen Menschen gegenüber, die ihr Vertrauen in sie setzen, ohne einen Sinn für Perspektive.» (Feyerabend, Paul: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 12.)
Krisen und Sehnsucht
Nicht jedes persönliche Problemchen muss nach zwei Schnappatmern zur Gesellschaftskrise aufgeblasen werden. Dennoch wird gern von einem Zusammenhang zwischen den Lebensproblemen der Individuen und der «Gesundheit» einer ganzen Gesellschaft oder Kultur gesprochen. Zu Hochzeiten der Kultur, so meinen etwa organologisch orientierte Kulturdiagnostiker, wenn sie in voller Blüte steht, wird die ihr zugehörige Gesellschaft vermeintlich getragen von bindenden Wert- und Weltvorstellungen. Das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaft läuft harmonisch in geregelten Bahnen. Gegen Ende der Blütezeit allerdings beginnt das Fundament zu bröckeln. Unsicherheiten brechen sich bahn, es kommt die Zeit der Umwertung aller Werte. Verwirrungen und Animositäten greifen um sich.
Im deutschsprachigen Raum Ende des 19ten Jahrhunderts bildete sich die sogenannte Lebensreformbewegung, ein Sammelsurium von experimental veranlagten Geistern, die versuchten, aus den alten als autoritär und kleinbürgerlich und den neuen als bedrohlich empfundenen Strukturen der sich immer mehr beschleunigenden Entwicklung der Industrialisierung auszubrechen. Sie litten an den vorgefundenen Lebensangeboten und hielten sie für nicht fortführbar, oder nicht (mehr) fortführenswert. Stattdessen sehnten sie sich nach einem Leben, das sich (wieder) stärker «der Natur» zuwendet, von der man sich durch Geldwirtschaft, Profitgier und Technisierung entfremdet wähnte.
Zu jener Zeit war Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes eines der meistgelesenen Bücher im deutschsprachigen Raum. Besonderen Anklang fand eine in diesem Buch beredsam ausgedrückte Endzeitstimmung. Sie verband sich, nicht nur bei den Lebensreformern, mit der Sehnsucht nach etwas Neuem, Wunderbarem, nach sogenannter Wiederverzauberung und Spiritualität, nach Tiefe und Verbundenheit. Ein Bild davon gibt Herrmann Hesse in Die Morgenlandfahrt. In einem Verlagsprospekt zu diesem Buch ¨heisst es, es gehe um
«die Vereinsamung des geistigen Menschen in unserer Zeit und die Not, sein persönliches Leben und Tun einem überpersönlichen Ganzen, einer Idee und einer Gemeinschaft einzuordnen, Sehnsucht nach Dienen, Suchen nach Gemeinschaft, Befreiung vom unfruchtbar einsamen Virtuosentum des Künstlers.» (Hesse, Hermann: Die Morgenlandfahrt: Eine Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.)
Warum aber wurden die Lebensreformer weitgehend als Aussätzige und Spinner betrachtet und nicht als Vorbilder einer neuen Zeit, wenn sie doch eigentlich den Nerv der derselben trafen? Es braucht Mut die eigene Lebensweise zu hinterfragen und dann auch zu ändern. Fühlten sich die «Kleinbürger» unangenehm berührt von jenen Sonderlingen, weil sie ihnen zum Teil aus der Seele sprachen, die «Falschheit» des eigenen Lebens vor Augen führten? War es vielleicht leichter sie einfach als abseitige Esoteriker zu diffamieren, weil sie ein Wagnis eingingen, zu dem man sich selbst nicht durchringen konnte?
«Was die Herde am meisten hasst, sind diejenigen, die anders denken. Es ist nicht so sehr die Meinung an sich, sondern die Kühnheit, selbst zu denken, etwas, was sie selbst nicht können.» (Schopenhauer, Arthur: Die Kunst recht zu behalten…)
Rauschen und Brausen – Von der Beratung zur Beschwörung
Immer wieder erhielt meine Partnerin Ratschläge und Lektüretipps von ihrer Freundin aus Kindertagen. «Du musst Deine Vergangenheit hinter Dir lassen!», «Vertrau Deinem Körper, er weiß, was Du brauchst!», «Finde heraus, was Du wirklich willst, und dann lebe es!» Was nach Glückskekssprüchen klingt, kann im richtigen Zusammenhang manchmal der nötige Anstoß sein. Womöglich. Wer mit den sieben Weisen Griechenlands im Alltag sprechen konnte, hatte hoffentlich gute Gesprächspartner, die mehr zu äußern wussten als die überlieferten Sprüche.
Thales: «Sei nicht faul, selbst wenn du Geld hast.»
Solon: «Nichts im Übermaß!»
Chilon: «Beweg nicht beim Reden die Hand; das sieht aus, als wärst du verrückt.»
Pittakos: «Zuverlässig ist das Land, unzuverlässig das Meer.»
Bias: «Die Meisten sind schlecht.»
Kleobulus: «Viel hören und nicht viel reden.»
Periandros: «Halte dich an alte Gesetze, aber an frische Speisen.»
Habt vielen Dank, oh Ihr Weisen aus dem fernen Griechenland für diese Belehrungen! Doch was mach ich nun konkret? Im Deutschland heutigertage gibt es den Rat der fünf «Wirtschaftsweisen» (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, SVR). Man darf hoffen, dass deren Tätigkeit über die Absonderung von Kalendersprüchen hinausgeht und konkrete volkswirtschaftliche Planungen betrifft. Es ist allerdings auch nicht ganz redlich, jenen sieben griechischen Weisen den späteren Gebrauch, der von ihren Aussprüchen gemacht wurde, anzulasten. Die Tendenz, komplexe Sachverhalte, Lehren oder Zusammenhänge in möglichst kurzer Form auszudrücken und weiterzugeben, ist für endliche, sprechende Wesen sicher wichtig. Oder sind diese Sprüche vielleicht nur Titel oder Werbetexte für komplexere Vorstellungszusammenhänge, die uns leider verloren gegangen sind? Bleibt bei dieser Verdichtung wirklich nur das Wesentliche in konzentrierter Form erhalten? Sind das gleichsam nur weisheitliche Brühwürfel, die man aufgiessen muss, mathematische Formeln, die gedeutet werden, Algorithmen, die angewendet werden wollen oder Mantren, die sich nach Weisheit Strebende für das richtige Handeln und das gute Leben immer wieder ins Gedächtnis riefen? Wir wissen es nicht.
Auf einer Geburtstagsfeier legt jene Freundin «Osho Zen Tarot»-Karten für drei der anwesenden Gäste. Auf den Karten sind kitschige Motive zu sehen. Jede Karte trägt einen «Namen». In der Beschreibung heißt es über das «transzendentale Zen-Spiel»:
«Traditionelle Tarot-Decks werden häufig verwendet, um unsere Sehnsucht nach Wissen um die Zukunft oder die Vergangenheit zu stillen. Beim Osho Zen Tarot geht es darum zu verstehen, was HIER und JETZT ist. Als Grundlage dient die Weisheit des Zen, die uns lehrt, dass die äußeren Ereignisse lediglich unsere eigenen Gedanken und Gefühle widerspiegeln, auch wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. So helfen uns diese spirituellen Karten, ein besseres Verständnis unserer Innenwelt und ihrer Transformationen zu bekommen.
Das Tarotdeck orientiert sich an der Großen und Kleinen Arkana der klassischen Tarots, bietet aber völlig neue Interpretationen und Bezeichnungen der spirituellen Reise des Menschen: Existenz – Die innere Stimme – Kreativität – Leere – Bewusstheit – Mut – Wandel – Durchbruch – Transformation usw. Auch die Kleine Arkana erscheint in einem neuen Gewand: Verschiedenfarbige Quadrate ersetzen die klassischen Symbole, Bezeichnungen wie Erschöpfung – Reisen – Unterdrückung – Freundlichkeit – Quelle usw. lassen auch hier den direkten Bezug zur Innensicht klarwerden.
Die Bilder sind visionär, spirituell, träumerisch, modern und kraftvoll von Ma Deva Padma gestaltet – sie entführen uns in eine farbenreiche Phantasiewelt. Die Texte im beiliegenden Anleitungsbuch sind klar im Sinne von Zen geschrieben und tragen zum tieferen Verständnis bei.» (Osho Zen Tarot: Das transzendentale Zen-Spiel, Königsfurt-Urania Verlag 1995.)
Die Leiterin des Spiels behauptet, die Karten nur zu legen, ansonsten aber völlig zurückzutreten. Wahl der Karten, Inhalt und Deutung seien gänzlich Sache der Rat suchenden Person. Im Zusammenhang mit dem kleinen Büchlein deuten dann Leiterin und Suchende die Karten, bzw. holen die der Suchenden (noch) unbewusste Bedeutung ans Licht. Alle drei Rat Suchenden sind in irgendeiner Weise unzufrieden mit sich und ihrem Leben. Analyse und Lösung laufen bei allen nach demselben Schema.
«Du bist unzufrieden/unglücklich, weil Du in der Vergangenheit lebst und Dich zu sehr auf die Zukunft ausrichtest.»
«Sieh in Dich hinein und übernimm Verantwortung für Dich, nur Du kannst das erledigen! Lebe im Hier und Jetzt!»
«Lerne: Du bist nicht egal, Du kannst glücklich sein!»
Wie genau man das anstellen soll glücklich zu sein, scheint niemand fragen zu wollen. Ist es nicht eine Binse, dass uns Geschehnisse aus unserer Vergangenheit lange belasten können und wir uns ständig um die Ausgestaltung der Zukunft sorgen? Dennoch sind alle drei überrascht. wie treffend die Karten ihnen mitteilen, dass es in ihrem Leben eine schwierige Beziehung gibt oder gab, dass sie fixe Wünsche für die Zukunft haben, dass sie mit mindestens einer ihrer Charaktereigenschaften unzufrieden sind. Die Kartengeberin selbst wirft gewichtige Blicke in die Runde, sobald eine neue Karte aufgedeckt wird und fast bekenntnishaft bestätigen die «Klientinnen» den Gehalt, auf den die Karten aufmerksam gemacht hätten.
Vom Arm der Leiterin schaut ihr Totemtier stumm in die Runde, darüber schwebt gleichsam ein Traumfänger und irgendetwas, das aussieht wie ein Yin-Yang-Zeichen. Mir kommt in den Sinn, wie ein paar Freunde und ich vor Jahren während einer Klassenfahrt in den Schwarzwald «Gläserrücken» spielten. Eine «Geisterbeschwörung» bei der alle den Zeigefinger auf den Rücken eines Glases legen und dann der Leiter bzw. der beschworene Geist das Glas über Buchstaben und Zahlen zu Antworten auf die von uns gestellten Fragen rückt. Zum Setting gehörte es auch, dass man es in der Nacht spielt, das Fenster leicht ankippt und nur ein paar Teelichter anzündete. Mancher spielte sich auf, aber ernst genommen hat das letztlich niemand. Der ganze «esoterische Klamauk», so dachte ich immer, fände in einem ähnlichen Modus statt, alles harm- und letztlich nutzlos oder ein blosser Spass. Aber ganz so ist es nicht.
Denn meiner damaligen Partnerin gefiel mein schnippischer Ton nicht, den ich an den Tag legte als wir über die vermeintliche Zen-Praxis zwischen Sektglas und Grillkohle sprachen. Offenbar nahm ich in ihren Augen die Sache doch nicht ernst genug. Sie schloss mit den Worten: «Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als die Schulweisheit sich träumen lässt!» Ich muss gestehen, dass ich zwischen den Buddhafigürchen, die aus jeder zweiten Wohnungsecke herauslächeln, Traumfängertattoos, den Glauben an die angeblich «alternativmedizinische» Medikamente wie Globuli aus dem Hause «systemtrotzender» Großkonzerne, Mineralien zur «Energetisierung» des Leitungswassers und der Verteufelung von Impfungen nur Geldmacherei und die Darstellung von Bedürfnissen und Sehnsüchten sehen kann, aber nichts, was die «Schulweisheit» übersteigt. Vielleicht Sehnsüchte danach, an etwas Besonderes glauben zu können und dadurch selbst ein wenig besonders zu werden. Vielleicht geht es um das Bedürfnis, intensivere Erfahrungen zu machen als sie das alltägliche Leben bietet, sich mit etwas «Grösserem» zu verbinden als dem, was einem als Banalitäten im täglichen Einerlei begegnet. Bin ich mit diesen Einschätzungen die moderne Variante des die Lebensreformer diffamierenden Kleinbürgers?
Hineintäuschen in das Falsche
Vor mittlerweile 14 Jahren fasste ich den Entschluss, doch noch in einen Kampfsport einzusteigen. Welchen wählen? Zuvor hatte ich nur minimale Erfahrungen mit Karate und Judo. Natürlich sollte es ein effizienter, am besten ein allen anderen überlegener Stil sein. Doch war ich in der Einschätzung völlig abhängig davon, wie sich unterschiedliche Schulen, Stile, Meisterinnen und Schüler im Internet darstellten und wie über sie in Foren und Artikeln gesprochen wurde.
Ich hatte Glück. Ein sympathischer KungFu-Trainer, der mein Freund wurde, konnte mich von seinem Stil überzeugen. Genauer müsste ich sagen, das Training bei ihm hat mir schlicht von Anfang an Freude bereitet. Ich habe da gar nichts begründet entscheiden können, was irgendetwas mit einem qualifizierten Urteil über Können, Effizienz oder dergleichen zu tun gehabt hätte. Doch ließen mich die Diskussionen aus den Foren nicht los. Das hat auch etwas mit Eitelkeit zu tun. Wer möchte schon ein Kampfsystem lernen, das seinen Zweck nicht erfüllt? Wer möchte schon jahrelang Zeit und Fleiß aufbringen, um sich am Ende eingestehen zu müssen, dass er oder sie außer ein wenig Rumzuhampeln das, was er glaubt getan zu haben oder glaubte zu können, nicht getan hat, bzw. gar nicht kann?
Heute würde ich meine jüngere Version fragen, worauf sich die vermeintlich umfassende Effizienz der sportlichen Ausbildung denn eigentlich beziehen sollte? Vielleicht hätte ich geantwortet: «Na auf den Kampf, auf`s Kämpfen!» Aber es ist doch nicht das Gleiche, ob ich nun olympischer Boxer, ein Kneipenschläger, Elitesoldat oder erfolgreicher Fechter sein möchte?!
Mir erscheint die Frage heute albern. Sie beruht auf einer kindischen Vergleichsmentalität. «Wer hat das tollste Spielzeugauto?», «Wer hat die teuersten Schuhe?» «Ist östliches KungFu besser als westliches Boxen?». Das entspricht Fragen wie: «Wer ist stärker: Pitbull oder Panther?» «Wer ist gefährlicher: Krokodil oder Nilpferd?» mit denen sich Halbwüchsige im Netz ebenfalls die Zeit vertreiben können. Die Frage, welcher Stil auf möglichst alle Situationen vorbereitet oder für jede Gefahrensituation eine Antwort hat, schielt nicht auf eine konkrete Antwort, auch wenn es so scheint. Sie beruht vielmehr auf einem doppelten Urteils- oder Grössenwahn. Denn wie sollte man sich die Beantwortung der Frage vorstellen? Sie ist so allgemein gehalten, dass es gar keinen Weg gibt, sie auf dem gewünschten allgemeinen Level überhaupt beantworten zu können. Ausserdem scheint, wer sie stellt, etwas wie Unbesiegbarkeit anzustreben und damit eine kindliche Allmachtsfantasie weiter zu pflegen, an deren Realisierungsmöglichkeit wir doch eigentlich alle irgendwann zu glauben aufhören müssen.. Zu glauben, man brauche nur dieses System zu lernen, aus welchen Gründen auch immer, ist eine Illusion. «Dieses System ist das vollständige, es ist in sich geschlossen. Ich habe nichts anderes mehr nötig! Alles andere ist Quatsch!» Wer so denkt, müsste auch glauben können, dass es ein Universalwerkzeug geben müsste, das so gut wie die Hammer hämmern, wie die Zange ziehen, wie der Schraubendreher schrauben, der Zollstock messen kann, jedoch weder ein Hammer, noch eine Zange, noch Schraubenzieher oder Zollstock wäre, sondern eben das Werkzeug überhaupt, das Überwerkzeug, dass alles allein und besser kann.
Sollte es im Interesse guter Lehrerinnen und Lehrer sein, so eine (unsinnige) Haltung zu fördern oder gar zu lehren? Nicht selten werden Schüler mit subtilen Andeutungen in solch eine Aura getaucht sich zu den Glücklichen zählen zu dürfen, die den Lehrer gefunden haben, der die universale Übertechnik lehren kann, , denn mit diesen Aura kann man manchen sehr gut das Geld aus der Tasche ziehen. Hier noch eine teure Prüfung ablegen, dort noch für eine «tiefere» Technik bezahlen, die nur dem kleinsten esoterischsten Kreis vorbehalten ist, das muss doch drin sein, wenn es einem wirklich um das Ultimative geht. Doch nicht nur Schülerinnen und Schüler sind Opfer solcher Täuschungen. Manchmal verstrickt sich die ganze «Gemeinde» mitsamt ihrem mehr oder minder charismatischen Führer in einen derartigen Glauben. Das Internet ist voll von Auftritten, die auf derartige Täuschungsgemeinschaften hinzuweisen scheinen: Ein anhimmelnder Schüler interviewt den Grossmeister, der über den Dingen zu stehen scheint, und fragt, ob er denn seine Künste schon einmal hat anwenden müssen? Nein, heisst es dann, die Situation konnte immer vorher entschärft werden, bevor es zu Eskalation und körperlicher Gewalt kam, die tötlich hätte enden können. «Aber, wenn ich kämpfen muss, dann weiss ich: ich würde obsiegen!» Nach einer gekünstelten Pause folgt dann: «Das ist der Kern der Idee «Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen.»»
Der Glaube der Meister an ihre eigene Überlegenheit und die ihrer Technik, der oft genug eine besonders hartnäckige Form der Realitätsverweigerung und Selbsttäuschung ist, springt dann auf die Schüler über, von denen ich später auch einige bei uns im Training erleben durfte. «Wir machen kein Sparring. Wir üben nur Drills, die Techniken sind zu gefährlich.» «Wir haben nie Schlagtraining gemacht, bei (asiatischen) Kampfkünsten geht es ja nicht wie im Boxen um Sport oder Fitness.» Häufig waren Leute, die sich so oder in ähnlicher Weise geäussert hatten, im lockeren Sparring dann merkwürdig deplatziert, wie man es nur von blutigen Anfängerinnen kennt. Woran es lag? Die Angriffe kamen nicht in abgesprochener Art und Weise, der Stresslevel, den auch Sparring unter Freunden haben kann, war schlicht neu für sie. Der Überraschung folgten in den seltensten Fällen Neugierde. Zumeist frustrieren solche Erfahrungen und gern wird versucht, sie fortzuerklären, was für den unbeteiligten Beobachter höchst peinlich ist. Dies passiert womöglich auch, weil sich Anhänger und Anhängerinnen gar nicht so selten und nicht nur im Kontext von so genannten «Sekten» so sehr mit ihrer Lehrerin oder deren Stil identifizieren, dass sie sich nicht nur körperlich, sondern auch persönlich angegriffen fühlen, wenn ihre Vorbilder und idealisierten Techniken in Frage gestellt werden.
Macht dem Meister
Was macht mich zur Autorität in irgendeiner Sache? Ein Titel? Ausbildung? Sehr oft geht die Zuschreibung von Autorität auf nachweisbare Erfahrungen, auf erreichte Ziele zurück. An den Hochschulen und Ausbildungszentren liefern wir dafür Qualifikationsarbeiten ab, die jemand ohne entsprechende Erfahrung und daraus resultierenden Fähigkeiten und Kenntnissen nicht zustande gebracht hätte. So zumindest die Theorie. Gibt es aber etwas bspw. der medizinischen Ausbildung Äquivalentes für die grossen Fragen des Lebens? Ein Doktorat für Lebensmeisterei gibt es jedenfalls nicht. (Selbsternannte) Lebensberaterinnen und Lebensberater gibt es dagegen mehr als Zahnärzte, schätze und befürchte ich. Waren Sokrates oder Konfuzius Berufsratgeber?
«Der Wegweiser muss den Weg nicht gehen, den er weist.»
Ein starker Raucher kann ein guter Lungenarzt sein. Eine gute Ernährungsberaterin, also eine, die abgestimmt auf mich guten Rat weiss, kann stark übergewichtig sein. Kann aber jemand zu weisem Rat befähigt sein, der selber völlig unweise handelt, seinem eigenen Rat nicht zu folgen weiss? Wäre das nicht oft jemand, der aus seinen Erfahrungen nicht lernt, immer wieder dieselben Fehler begeht und sich dann über die Resultate wundert oder gar empört? Dann scheint es doch unwahrscheinlich, dass ich von dieser Person tiefere Einsichten zu erwarten hätte. Ist ein weiser Rat nicht einer, der mir hilft, Gewohnheiten zu unterbrechen, aus denen ich nicht herauskomme, an denen ich aber auf irgendeine Art leide, ob nun wissentlich oder unbewusst? Durch diese störende Intervention kann er oder sie mir Erfahrungen, Hinsichten und auch Reflexionen transparent machen oder mich zu ihnen anregen. Wer Erfahrung oder Einsicht in diesem Bereich nicht hat, nur vortäuscht, kann der mir im Ernstfall wirklich helfen, bzw. ist er oder sie daran überhaupt interessiert?
Andererseits kann man sicher auch für jemanden da sein, ihm in schwieriger Lebenslage eine Hilfe sein, ohne dass man schon einmal in genau derselben Lage gewesen sein muss. Man denke an den Diener Gerasim in Tolstois Geschichte «Der Tod des Iwan Iljitsch». Anders als die Verwandten Iljitschs, die bei Besuchen deutlich zeigen, dass sie vom nahestehenden Tod peinlich berührt sind und ihn deshalb fortzuleugnen versuchen, ist der Diener einfach da, geradeheraus und aufrichtig. Er kümmert sich um den Sterbenden, ohne ihm irgendwelche Märchen aufzutischen und kann Iwan Iljitsch auf diese Weise trösten, ja er verhilft ihm sogar noch zu einer Art späten Kehrtwendung in seinem Leben.
Ganz ähnlich wirkt Hirayama, die Hauptfigur von Wim Wenders Film «Perfect Days», auf einen todkranken Fremden. Er trinkt ein Bier mit ihm, redet unverstellt und spielt Schattenfangen mit ihm. Hirayama (PClink) holt den Fremden mit seiner Offenheit aus dessen Melancholie sozusagen noch einmal ins Leben zurück, schenkt ihm eine gute Zeit.
Niemand kann einem Sterbenden helfen, weil er weiss, wie es ist zu sterben. Denn niemand kehrt von den Toten zurück. Oder wenn die Erfahrung des Sterbens Bedingung zur Hilfeleistung am Ende des Lebens wäre, dann dürften nur reanimerte Menschen mit Nahtod-Erfahrung in der Palliativmedizin(Pc Link) arbeiten.
Vielmehr haben die genannten zwei fiktiven Figuren «etwas vom Leben verstanden», wie man so sagt und können deshalb den Sterbenden beistehen. Die am Ende ihres Lebens Leidenden können von der Lebenseinstellung dieser «einfachen Weisen» profitieren, ohne dabei von ihnen «rational» über Leben und Tod belehrt zu werden. Auch sind die eben Genannten nicht in irgendeinem «Beratungsbusiness» tätig, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen wie die Sophisten und Verfasserinnen esoterischer Ratgeberliteratur. Hirayama und Gerasim scheinen sich nicht auf eine Lehre zu stützen und ob sie aus eigener Erfahrung schöpfen, ist nicht klar ersichtlich. Sie sind alle offen, zugewandt, ehrlich und unverstellt zu Leuten, die in schwerer, ja auswegloser Situation zufällig oder plötzlich auf ihre Hilfe angewiesen sind.
Selfcare: Die Wahrheit über (absolut) Alles
In der Lebensberatung ist es eine Mode geworden, die Aussagen in einem eigenen Buch durch das einzurahmen und zu legitimieren, was die Autorin oder der Autor als ebenfalls Betroffene/r erlebt hat. Das scheint sie nahbarer machen zu sollen, zu einem Freund vielleicht. Es dient aber auch als begründende Voraussetzung: «Ich habe dieses und jenes durchgemacht! Hier kommt mein Weg, meine Lehre, meine Wahrheit für Dich! Sie ist gestützt von authentischer Lebenserfahrung!» Zur Scheinbescheidung gehört dabei nicht selten die Absicherung, dass natürlich letztlich jeder die Wahrheit selbst finden müsse, die Wahrheit, die nur ihm oder ihr entspricht.
Ein Muster dieses Typs Ratgeber sind die Bücher von Bestsellerautorin Brianna Wiest. In The Truth About Everything gibt sie sich ganz persönlich und verletzlich, wie sie betont, dennoch möchte sie ihre Gedanken unbedingt teilen. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass mir mit jedem weiteren Satz die Fähigkeit aufmerksam zu bleiben verdampft. Fast Jeder Satz könnte auch im Innern eines Glückskekses warten oder Teil eines Horoskops sein. Sätze werden scheinbar wahllos aneinandergereiht. Eine besonders freie Assoziation aus Allgemeinheiten und Platituden, die vielleicht poetisch wirken sollen, aber an die Gefühlsduseleien in Schlagertexten erinnern. Daneben finden sich aber auch Sätze, die mit starker Überzeugung, fast schon im Befehlston geäussert werden. Vermutlich braucht das Buch auch diesen autoritären Ton, um eine intime Einsicht oder Kennerschaft des Lebens vorzutäuschen.
Immer wieder versinkt man in einer Art von Gedankenschaum oder einem Wortbrei, in dem man nach nichts Festem greifen kann. Hier ein Beispiel:
«Vielleicht bist du ja schon lange mit dir unzufrieden, oder auch nicht. Das ist normal und manchmal wichtig. Aber wisse, alles ist wunderbar und doch rätselhaft zugleich! Und was wären wir ohne Rätsel?! Ich bin dankbar für alles, was ich erleben durfte. Sei immer du selbst! Vergiss aber auch die anderen nicht! Hoffnung stirbt nie, sie wird nur vergessen.»
Eine Stimme, die manchmal wie eine Hohepriesterin dann wieder wie eine alte Jugendfreundin klingt, scheint sich an die Leserin und den Leser zu richten. Die Geschichten sind jedoch viel zu vage, als dass sie, wenn man nur ein wenig Aufmerksamkeit auf den Text verwendet und ihn nicht lediglich im Halbschlaf überfliegt, den Eindruck erzeugen könnten, dass sich hier jemand authentisch aus seiner Lebenserfahrung heraus äussert. Stellt man sich die Autorin in einem Gespräch vor, würde man wohl vermuten, dass der Wechsel zwischen Banalitäten, ständiger Relativierung und strikten Behauptungen lediglich dazu dient, eine Urteilsschwäche zu kaschieren:
«Ich weiss, es gibt eine über alles erhabene höhere Macht, und ich weiss, dass ich in Übereinstimmung mit dieser höheren Macht einen Weg für mich bestimmt habe. Ich weiss, dass es grössere Ziele gibt und Dinge, die ich lernen, Anteile, die ich entwickeln, Dinge, die ich erfahren muss. Aber ich weiss auch, dass es verschiedene Wege gibt, dorthin zu gelangen, dort zu sein und dies zu erleben.
(…)
Heute sagte mir jemand, ich solle mir mein Leben mit vierzig vorstellen. Das tat ich. Das meiste davon gefiel mir. Anderes nicht.» (S. 52 Essay: Schicksal ist eine Frage des eigenen Willens):
«Was genau gefiele Dir nicht? Was gedenkst Du zu ändern? Warum? Woher hast Du das Wissen um jene höhere Macht?» So möchte man diesem Raunen, das sich für Weisheit ausgibt, entgegnen. Manchmal wäre es sogar besser gewesen, die Lektorin hätte die Semantik der Sätze besser geprüft:
«Glückliche Menschen bezeichnen sich nicht selbst als «glückliche Menschen» oder betrachten sich als solche. Sie definieren Glück als ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und Zufriedenheit, verbunden damit, dass sie ihren wahren Leidenschaften folgen. Das gehört zur Weisheit glücklicher Menschen.
(…)
Glückliche Menschen entscheiden sich für das Glück, indem sie das auswählen, was es am ehesten ermöglicht.» (S. 59)
In dieser Art Ratgebern, die eigentlich gar keinen konkreten Rat geben, finden sich die Spruchweisheiten, die auf beliebigen «esoterischen Grabbeltischen» im Internet aufgegriffen werden können: «Finde deinen inneren Kern.» «Alles ist im Wandel.». «Höre auf Deine innere Stimme.» «Das Leben ist ein Traum, aus dem wir erwachen müssen.» Normalerweise, so Wiest, würden wir uns durch Job oder Geschlecht definieren. Beides könne aber verlorengehen oder in Zweifel gezogen werden. Aber: «Dein «wahres Selbst» kann nicht verloren gehen, und daher stellt all dies auch keine sinnvolle Art dar, dich zu definieren.»(S.117) Und wieder stellt sich die Frage, woher das alles? Was soll dieses wahre Selbst sein, dass im steten Wandel gleich bleibt? Oder doch nicht:
«Du entwickelst dich ständig weiter, dein Zustand ist nicht statisch, und du musst lernen, dich darauf einzustellen.»
Und weiter mit der Versicherung, das zu tun, was man fühlt:
«Das bedeutet, nach dem zu handeln, was du in jedem beliebigen Moment denkst und fühlst.»
Aber, wenn mir genau das fraglich geworden ist? Was ist, wenn Denken und Fühlen nicht zusammengehen? Auf die Sorgen und Bedürfnisse von ratsuchenden Menschen haben die sogenannten Ratgeber leider oft nicht viel mehr zu bieten als «Wenn es ganz schlimm kommt, dann hör auf Dein tiefes und wahres Selbst, verhalte dich klug und sei glücklich!» Wenn das die Wahrheit über alles ist oder die Antwort auf die Frage nach allem, dann fährt man vermutlich doch besser mit der Auskunft: «42».
Wer wählt braun?
Zählen die Bücher von Wiest überhaupt zur Esoterik im heutigen Sinne, nur weil sich darin Versatzstücke verschiedener Weisheitstraditionen finden? Was bedeutet «im heutigen Sinne»? Vielleicht fällt Folgendes Beispiel klarer aus:
«Du bist die Farbe, die du wählst, und sie spiegelt die Bedürfnisse deines Wesens.»
Das ist so etwas wie der Leitsatz der sogenannten «Aura-Soma-Therapie». Es sei eine ganzheitliche Methode Menschen zur Selbsterkenntnis und Wohlbefinden zu führen. Vicky Wall heisst die Erfinderin dieses Spiels mit farbigen Ölen und Quellwasser in Glasflacons. In jungen Jahren habe sie bereits übersinnliche Erlebnisse gehabt und später sei ihr der Name für das Produkt bzw. die Therapie während einer Meditation «offenbart» worden.
In den sogenannten Equilibrium-Flaschen befänden sich die lebendigen Energien von Pflanzen, Kristallen und Farben. Darin sollten sich die Schwingungen des Engelreiches mit dem Reich der Pflanzen und Mineralien vereinen. Heilend seien diese Energien in den Fläschchen durch die Wirkung von Wesen der spirituellen Welt. Dazu gibt es noch die Pomander. Darin enthalten sind Duftstoffe, die man sich auf linke Hand geben und mit der rechten verreiben soll. Den energetischen Duft fächere man der eigenen Aura ein. Ausserdem erhältlich sind die 15 Quint- bzw. Meisteressenzen. Darin enthalten seien irgendwelche Essenzen von Meistern, die einen mit dem inneren Meister in sich selbst (wieder) in Verbindung setzen könnten. Wie wirkmächtig die Farbenrituale sein sollen, zeigt sich zum Beispiel bei der Meisteressenz B55, «Der Christus». Wenn man diese Essenz abends am Unterbauch um den Körper herum auftrage, könne damit die Kundalani-Kraft geweckt werden und so möglicher Missbrauch verarbeitet werden. Dieser flüssige Christus ist schon für 41 Euro zu haben. (1l = 820 Euro).
Angeblich habe Aura-Soma Bezüge zu den uralten Weisheitslehren der Kabbala, dem Yijing, dem Tarot und natürlich der hinduistischen Chakrenlehre. Jeder Mensch fühle sich ganz intuitiv, nicht rational, von bestimmten Farbkombinationen angesprochen. Diese wähle man dann bei einer «Beratung» und aus ihnen werden mithilfe eines Deutungskatalogs, so ähnlich wie beim Tarot, Schlüsse und Diagnosen gezogen.
Glücklicherweise kann man nicht nur in Farbtherapie gehen, sondern auch andere Menschen bei der Selbstheilung bzw. Ausbalancierung unterstützen, nachdem man drei Kurse zu je sechs Tagen für ein paar hundert Euro absolviert hat.
Taucht man eine Weile in diese Welt des «Esokommerzes» ab, trifft man immer wieder auf dieselben Elemente. Ein wenig Fernost, oder ferne Vergangenheit, Feinstofflichkeit, die sich natürlich der wissenschaftlichen Erforschung entzieht, oder von ihr frevelhafterweise sogar in ihrer Existenz geleugnet werde, ominöse Gründerfiguren mit angeblichen medialen Begabungen, dann und wann Einweihung in tiefe Geheimnisse, welche im Zweifel nur auserwählte Menschen verstehen und ein Schneeballsystem, in dem man neben der üblichen Betrügerei sein Geld verbrennen kann und andere Menschen mit hinein-, bzw. «hinaufzieht». Wie oft liest man dann, dass es sich nicht im eigentlichen Sinne um Kosten handelt, sondern um «Investitionen», sei es in die Erforschung der eigenen Weiblichkeitskraft, dem Wiedererwecken des «Urmannes» in einem selbst oder sonstiger Quacksalberei.
Wirkliches Neuland wird von den heutigen esoterische «Lebensreformern» und «Morgenlandfahrern» nicht erschlossen. Es werden aber nicht selten alte Klischees bedient und der dazugehörige Plunder mithilfe des Internets leichter verkauft. Morpheus lag falsch: Nicht die Matrix, der Markt hat dich, Neo!
Wo Erleuchtung ist, da ist auch Schatten
Wer ein trennscharfes Kriterium sucht oder erwartet, mit dem man seriöse von unseriösen, in diesem abwertenden Sinne gemeinten esoterischen Weisheitslehren unterscheiden könnte, um immer auf der sicheren Seite zu stehen, wird vermutlich enttäuscht werden oder letztendlich einem (weiteren) Betrug aufsitzen. Gewiss, etwas genauer betrachtet, scheinen sich doch viele Heilsversprechungen des Esoterikmarktes selbst zu entlarven. Das gilt aber nicht für alle und manchmal hängen Fremd- und Selbstbetrug eng verzahnt miteinander zusammen. Wie die Sozialwissenschaftlerin Pia Lamberty zusammen mit Katharina Nocun in den letzten Jahren immer wieder gezeigt haben, ist die sogenannte Esoterik mittlerweile zum Einfallstor für allerhand politisch motivierte Verschwörungserzählungen geworden. Zwischen «Klangschalen und Reichskriegsflagge» heisst bspw. ein Kapitel im Buch Gefährlicher Glaube, indem die Esoterik als «Türöffner» (S.224) für eben jene Erzählungen ausgewiesen werden. Es lässt sich leider feststellen, dass sowohl die allein kommerziell interessierte Esoterik als auch die politisch motivierte vor allem Menschen dazu bringen will, sich an bestimmte Produkte, Weltbilder und Glaubenssysteme zu binden, sie auf diese Weise manipulierbarer und von den betreffenden «Produkten» — seien es nun Heilsteine, Salböle oder Ideologien — möglichst nachhaltig abhängig zu machen. Häufig bedient man sich dabei freilich einer Rhetorik, die genau das Gegenteil vermitteln soll: Man wird endlich in die Freiheit geführt, gehört dann zu den Aufgewachten, den ins Geheimnis Eingeweihten, die niemand mehr täuschen kann. Alle anderen sind Schafe, die es ohnehin nicht verstehen werden… Mir scheint es fraglich, ob diejenigen, die anderen Menschen auf diese Weise den Blick einengen möchten und daran auch noch verdienen, wirklich am Wohl ihrer «Kunden» interessiert sind.