««Wozu lebe ich? Wozu begehre ich? Wozu handle ich?» Noch anders kann man die Frage so ausdrücken: «Ist in meinem Leben ein Sinn, der nicht zunichte gemacht würde durch den unvermeidlichen, meiner harrenden Tod?»»
Martin Münnich
METIS Projekt

Sinn

Schiffbruch ohne Boot – Über den Sinn des Lebens

Kirschblüten

Gleichmäßig fließt der Eierkuchenteig aus dem Messbecher in die heiße Butter, die ein ergrauter Mann, wie jeden Morgen in einer Pfanne erwärmt hat. Er stapelt drei Fladen übereinander auf einem Teller mit blauem Zwiebelmuster, gießt ein wenig braungoldenen Honig über die Speise, bevor er sich eine Tasse Kaffee zubereitet.
Vom Fenster an seinem hölzernen Rundtisch aus hat er einen unverstellten Blick in den Hinterhof des in die Jahre gekommenen Stalinbaus. Während der Mann isst, blickt er immer wieder hinaus in Richtung des in voller Blüte stehenden Kirschbaums.
Nachdem der Mann fertig gegessen hat, öffnet er das Fenster und lässt die noch kühle Luft hinein in seine Küche. Jahrzehnte sind vergangen, seit er den ehemals kleinen Baum in seiner Nachbarschaft bemerkt hatte. Jahrzehnte würde die Pflanze ihn überleben. So greift er nach seiner Kamera und schießt ein Bild dieses Augenblicks aus ihrer beider Leben.
Als er das entwickelte Foto eines Tages zu einer Familienfeier mitbringt, interessiert sich niemand dafür. Nach seinem Tod fällt das Bild beim Ausräumen der kleinen Wohnung seinem Bruder in die Hand. Der Kirschbaum war da schon lange einem Parkhaus gewichen.

Am Abgrund

William James versucht in seinen Varities of Religious Experience möglichst nah an persönlichen Erfahrungen von Menschen «entlangzudenken». Er hat ein Album verschiedenster Erlebnisse zusammengestellt, sie mit seinen Reflexionen gleichsam «zusammengeleimt». Eine dieser Erfahrungen möchte ich kurz in freier Übersetzung wiedergeben:

In der Kirche, in Gesellschaft oder beim Lesen, und ich glaube, immer dann, wenn meine Muskeln in Ruhe waren, spürte ich, wie diese Stimmung sich näherte. Sie ergriff dann unwiderstehlich Besitz von meinem Verstand und meinem Willen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und dann verschwand Sie wieder in einer Reihe von schnellen Empfindungen, die dem Erwachen aus einer Narkose ähnelten. Ein Grund, warum ich diese Art von Trance nicht mochte, war, dass ich sie mir selbst nicht beschreiben konnte. Auch jetzt kann ich kaum Worte finden, um mir diesen Zustand verständlich zu machen. Sie bestand in einer allmählichen, aber rasch fortschreitenden Auslöschung von Raum, Zeit, Empfindung und den zahlreichen Erfahrungsfaktoren, die das, was wir gerne unser Selbst nennen, zu qualifizieren scheinen. In dem Maße, in dem diese Bedingungen des gewöhnlichen Bewusstseins wegfielen, gewann das Gefühl eines zugrunde liegenden oder auch wesentlichen Bewusstseins an Intensität. Am Ende blieb nichts als ein reines, absolutes, abstraktes Selbst. Das Universum schien formlos und inhaltsleer. Aber dieses abstrakte Selbst blieb bestehen, gewaltig in seiner lebendigen Schärfe, mit dem Gefühl des größten Zweifels an der Realität und bereit, wie es schien, die Existenz wie eine Blase um sich herum zerbrechen zu sehen. Und was folgte dann? Die Befürchtung einer kommenden Auflösung, die düstere Überzeugung, dass dieser Zustand der letzte Zustand des bewussten Selbst war, das Gefühl, dass ich dem letzten Faden des Seins bis an den Rand des Abgrunds gefolgt war und bei der Demonstration der ewigen Maya oder Illusion angekommen war, rührte mich oder schien mich wieder aufzurütteln. Die Rückkehr zu den gewöhnlichen Bedingungen der empfindungsfähigen Existenz begann damit, dass ich zuerst die Kraft des Tastsinns wiedererlangte, und dann mit dem allmählichen, wenn auch raschen Einströmen vertrauter Eindrücke und alltäglicher Interessen. Endlich fühlte ich mich wieder als Mensch; und obwohl das Rätsel, was Leben bedeutet, nun ungelöst blieb, war ich dankbar für diese Rückkehr aus dem Abgrund – diese Befreiung von so schrecklichen Einweihungen in die Geheimnisse des Skeptizismus.
Diese Trance trat mit abnehmender Häufigkeit wieder auf, bis ich 28 Jahre alt war. Sie diente dazu, meiner heranwachsenden Natur die phantastische Unwirklichkeit all der Umstände einzuprägen, die zu einem rein phänomenalen Bewusstsein beitragen. Oft habe ich mich nach dem Aufwachen aus diesem formlosen Zustand des entblößten, scharf empfindenden Seins mit Schrecken gefragt: Welches ist denn die Unwirklichkeit? – Die Trance des feurigen, leeren, ängstlichen, skeptischen Selbst, aus der ich hervorgehe, oder die mich umgebenden Phänomene und Gewohnheiten, die dieses innere Selbst verschleiern und ein Selbst aus Fleisch und Blut und Konventionalität aufbauen? Sind die Menschen wiederum die Faktoren eines Traums, dessen traumartige Substanzlosigkeit in solch ereignisreichen Momenten verständlich wird? Was würde geschehen, wenn das Endstadium der Trance erreicht wäre?[1]

James notiert, dass es sich hierbei um eine Art pathologisierte Beschreibung mystischer Erlebnisse handelt. Es ist kein friedvolles Berührtwerden von Gottes Hand oder eine alles klärende Erleuchtung. Die deutende Beschreibung des Autors ist ambivalent. Die alltägliche und begrifflich eingefasste Empfindungs- und Erfahrungswelt ist im Zustand der Trance etwas Unwirkliches, gar Illusorisches. Während der Trance scheint sich das Rätsel des Lebens zu lüften. Gleichwohl hinterlässt die Rückkehr in die phänomenale Welt anscheinend Spuren fortwährenden Zweifels, welcher Zustand die eigentliche Illusion ist. Ist die Rückkehr in die gewöhnliches Empfindungs- und Urteilswelt vielleicht nur eine vermeintlich wohlige Fluchtbewegung?

[1] Nach William James: The Varieties of Religious Experience, Penguin Classics, 1983, S. 385f.

Sorglos

Ganz anders wird uns ein Erlebnis geschildert, das man auch «mystisch» nennen könnte, des Künstlers Kurt Barnert im Film «Werk ohne Autor».

1948 im Osten Deutschlands. Ein sachtes Kornfeldrauschen ist zu hören. Wind lässt Wellen über Weidewiesen wogen. In einer Eiche sitzt der angehende Künstler Kurt Barnert und schaut versunken in die Ferne der agrarisch geprägten Landschaft, als er kurz die Augen schließen muss. Lächelnd öffnet er sie wieder und atmet plötzlich befreit auf, bevor er sich vom Baum schwingt und etwas unbeholfen wie ein kleiner Junge über Wiesen und durch die Felder nach Hause rennt. Als er ankommt, sitzt sein Vater, ein arbeitsloser Lehrer, an einem Holztisch und versucht sich in der Reparatur von Radioinnereien.
«Vater, Du musst Dir keine Sorgen mehr machen, ich hab’s verstanden! Ich hab’s verstanden!» «Was hast Du verstanden?», fragt ihn der Vater.
«Alles, wie alles zusammenhängt, alles, die Weltenformel. Ich muss mich nie wieder sorgen. Ich brauch nie wieder Angst zu haben. Ich bin unberührbar.»
Woraufhin der Vater seinem Jungen entgegnet: «Das ist schön.»
«Nein Vater, Du verstehst nicht! Du musst Dir auch keine Sorgen mehr machen, wirklich. Und, ich muss noch nicht mal Künstler werden. Ich kann jeden Beruf ergreifen und ich werde immer das Richtige, das Wahre finden.»
«Das freut mich für Dich, wirklich.»
«Ich muss es festhalten, irgendwie festhalten.»

Seine Mutter hatte das eigentümliche Gespräch der beiden mitbekommen und nähert sich nun mit sorgenvollen Blicken ihrem Mann. Er versucht Sie zu beschwichtigen, weil er weiß, was ihr durch den Kopf geht. Sie erinnert sich an die Tante Kurts, die wegen angeblicher Schizophrenie von den Nazis erst sterilisiert und schließlich, da «lebensunwert», vergast wurde.
«Ich weiß, an wen Du denkst, aber er ist anders.»
Diese Szene spielt sich nach nicht mal einem Drittel des Films ab. Schon deshalb kann man ahnen, dass wohl weder der Vater noch der Sohn den Rest ihres Lebens sorgenfrei durch das Leben tänzeln werden. Ist Kurt Barnert die Übertragung seiner Erfahrung oder seines Gefühls misslungen? War alles nur eine Selbsttäuschung?

Sein Vater wird keinen Anschluss mehr an sein früheres Leben als Lehrer finden und sich erhängen. Auf Drängen seiner Frau hatte er sich widerwillig der NSDAP angeschlossen, um beruflich nicht in Nachteil zu geraten. Ein Schritt, der ihm die Rückkehr in die Berufswelt der DDR verbaute. Kurt Barnert selbst wird als Suchender portraitiert. Der Weg zu seinen Werken, seinem eigenen Stil, zu einem Leben mit seiner Liebe ist dramatisch, wenn auch verhältnismäßig unaufgeregt dargestellt.   
Sein tiefes Erlebnis auf der Eiche ist kein dauerhafter Zustand. Es strahlt nicht fortwährend durch sein ganzes Leben, garantiert keine anhaltende Sorglosigkeit. Aber vielleicht ist es eben doch sehr oft wirksam durch eine Erinnerung. Womöglich leitet diese ihn oder hilft bei der einen oder anderen Kurskorrektur. Andererseits, wir sprechen hier über einen Film, der eine Geschichte erzählt. Solche Geschichten werden gern auf ein Ziel ausgerichtet. Es ist zumindest fraglich, ob wir, wenn wir uns in diesem Medium bewegen nicht zu sehr unserem Wunsch, dass ein leben auf etwas hinauslaufen oder von etwas gesteuert sein muss, nachgeben und so «das wirkliche Leben» doch verfehlen.

Der Wegweiser

Tolstoi, der große Sinnsucher und Lebenslehrer vieler Menschen erzählt uns in seiner Beichte nicht von einer plötzlichen mystischen Erfahrung, die ihm den «Sinn des Ganzen» eröffnet oder ihn gar zur Kehrtwende des eigenen Lebens gebracht hätte. Stattdessen beschreibt er, wie sein fortgesetzter Lebenswandel zu einer Qual wurde angesichts der immer drängenderen Frage nach dem Wozu des Ganzen, seiner Lebensform und seines eigenen Tuns und Lassens. Unter der Last dieser Fragen drohte seine Existenz zusammenzubrechen, Tolstoi stand kurz vor dem Suizid. Ein Leben im Sinne der Phrase des immerwährenden Fortschritts durch technische, wissenschaftliche, philosophische oder irgendeine »allgemeine» sogenannte intellektuelle Vervollkommnung erschien ihm nur als eine weitere Variante der Versuche immer ausgefeiltere Bedürfnisbefriedigungen zu erzeugen. Ein Spiel, das Menschen, die sich in sich immer weiter steigernden Konkurrenzverhältnissen verstrickt haben, gerne spielen: Wer schafft es die meisten Bedürfnisse am raffiniertesten zu befriedigen. Für Tolstoi waren die Spieler dieses Spiels letztlich verloren. Das «Rätsel des Lebens» löse sich auf diese Weise nicht. Man brauche eine Lösung aber, um überhaupt weiterleben zu können. So wie man nicht auf das Meer hinausfahren könne, ohne zu wissen, wohin man fahre, könne man nicht leben, ohne zu wissen wozu:

«Meine Frage – die Frage, die mich im fünfzigsten Lebensjahre zu Selbstmordgedanken brachte, war die allereinfachste Frage, die in der Seele eines jeden Menschen ruht, vom dümmsten Kinde bis zum weisesten Greise, die Frage, ohne die das Leben unmöglich ist, wie ich es tatsächlich an mit selbst erfuhr. Die Frage besteht in folgendem: «Was wird das Ergebnis sein von dem, was ich heut tue, was ich morgen tun werde – was wird das Ergebnis meines ganzen Lebens sein?»

Anders ausgedrückt, wird die Frage so lauten: «Wozu lebe ich? Wozu begehre ich? Wozu handle ich?» Noch anders kann man die Frage so ausdrücken: «Ist in meinem Leben ein Sinn, der nicht zunichte gemacht würde durch den unvermeidlichen, meiner harrenden Tod?»» (Leo Tolstoi: Meine Beichte, Insel Verlag 2010, S. 46)
Schopenhauer, Salomo, Sokrates, Buddha, alle würden sie menschliche Weisheit als Antworten auf die Sinnfrage erzeugen. Und alle ihre Antworten liefen imgrunde auf dasselbe hinaus: Alles Leben ist vergänglich und so sollten wir uns das Vergehen des Leibes und des eigenen Lebens immer vor Augen halten, vielleicht sogar wünschen und uns damit von jeder Möglichkeit dieses eitlen Daseins in Konkurrenzspielen befreien.
In Tolstoi aber hat neben dieser von den Weisen nahegelegten und vorgelebten Form des Räsonierens über die Endlichkeit noch etwas weiteres gewirkt: Er wurde aufmerksam auf die unzähligen Menschen, die kein elitäres Geistesleben in Verzweiflung oder Weisheit führen, sondern einfach und zufrieden und fast gedankenlos einfach vor sich hin lebten. Zu glauben, dass Salomo oder Schopenhauer das wirkliche Leben gelebt hätten, alle anderen aber in der Verblendung existierten, sei ein große Fehler gewesen. Tolstoi nahm sich vor, diesen Hochmut zu überwinden und sich zu fragen, welchen Sinn denn die so genannten einfachen Menschen ihrem Leben geben würden.
Tolstoi bemerkte, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens falsch gestellt gewesen sei. Irrigerweise habe er versucht das Unendliche ins Endliche und umgekehrt hineinzuerklären. Das Leben ist endlich. Daran verzweifele man und versuche mit dem Denken einen «außerendlichen» Sinn zu finden. An diesem Denken und Suchen müsse aber wiederum der menschliche Verstand zerbrechen.
Antwort auf die Frage nach dem Sinn, auf die Frage, wie man leben solle, gebe allein der Glaube, wenn er uns auf Gottes Gesetz verweise. «Was wird Unzerstörbares aus meinem Leben herauskommen?» Darauf antworte der Glaube: Ewige Pein oder ewige Glückseligkeit. «Was ist der Sinn des Lebens?»: Die Vereinigung mit dem unendlichen Gott, dem Paradies. Diese unvernünftige Art der Erkenntnis, die Erkenntnis des Glaubens, liege in jedem Menschen und nur sie könne die Frage des Lebens beantworten. Der Glaube allein verleihe dem endlichen Dasein einen unendlichen Sinn, der von Tod und Leid nicht negiert werde.
Beim einfachen, arbeitenden Volk könne man diesen Sinn gewissermassen in seiner praktischen Anwendung sehen, nicht aber bei der, so Tolstoi, parasitär lebenden denkenden Elite. Je klüger man im Sinne dieser Eliten sei, desto eher sehe man Leid und Sterben als Übel. Jene einfachen Menschen aber lebten und litten meist wie es sich halt füge und näherten sich dem Tode in Ruhe, oft sogar in Freude. Sterben in Unruhe sei unter ihnen eher die Ausnahme.
Mir kommen bei dieser Einschätzung Tolstois Zweifel. Worauf er hinaus möchte, ist dennoch beachtenswert. Aufgrund der Enttäuschung sein Leben allein intellektuell nicht zum Besseren wenden zu können, kritisiert er alle Versuche das Leben denkend zu durchdringen und eine Antwort auf die Sinnfrage von wissenschaftlichen oder metaphysischen Einsichten zu erwarten. Doch nur durch das Leben selbst sei dessen Sinn zu finden, so Tolstoi. Der Wechsel seiner eigenen Form des Lebens sei zwar getrieben von einem Gefühl, dennoch betont er immer wieder, dass eben im Vollzug des Wandels «der Witz» liege, nicht in einem festen Begriff, einer blitzartig auftauchenden Idee oder in einem substanziell verstandenen Gefühl, durch das sich alles, was einem geschehe «auf einen Nenner»: eben den Sinn des Ganzen, bringen lasse. Daher müsse man die Glaubenslehre, derer er sich angeschlossen habe, auch im Vollzug des Leben selbst prüfen und nicht in begrifflicher Analyse. Glaubenserkenntnis, wie sie Tolstoi versteht, sei eine Erkenntnis ganz eigener Art, die sich eben im Vollzug des Lebens einstelle und nicht in dessen Begrübelung. Eine Erklärung oder ein Prinzip des Lebenssinns theoretisch ausfindig zu machen sei nicht möglich.

«Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt. Wenn ich Einem sage, […]: «Halte Dich ungefähr hier auf! – Kann denn dieser Erklärung nicht vollkommen funktionieren? (Und kann jede andere nicht auch versagen?)»» (Wittgenstein, Ludwig: Nachlass 220 64, The Bergen Electronic Edition, Charlottesville, Virginia, USA: InteLex Corporation, 2003)

Essen, Scheißen, Sterben

Vor einiger Zeit machte mich Michael Hampe auf ein YouTube-Video aufmerksam, welches mir seither immer wieder durch den Kopf ging. Ich möchte kurz wiedergeben, was man dort sehen und hören kann. Die buddhistische Nonne Guja berichtet von einem Gedicht, das sie möge. Dort heiße es, wir kommen in die Welt hinein, um zu essen, zu schlafen und zu scheißen und am Ende bleibe noch eines übrig: zu sterben. Sie möge das Gedicht sehr, es bereite ihr Freude.
Ich glaube, das Gedicht amüsiert sich ein wenig über die Wozu-Frage, wie sie sich uns oft zu stellen scheint. Guja nennt noch ein paar weitere Alltäglichkeiten, die sich jeder selbst dazu denken könne, Fernsehen und Sex zum Beispiel. Das Gedicht sei nicht pessimistisch zu verstehen. Aber, wenn man nach mehr Ausschau halte, wenn man glaube, es sollte im Leben um mehr gehen, z.B. Zen, Buddhismus, Leerheit, Erleuchtung, Klarheit, …dann habe man ein Problem.
Im Zen, so erläutert Guja weiter, lehre man nicht gut zu leben oder gut zu sein. Sie würden dort nichts über das Leben und den Tod lehren, sondern über beides hinaus zu gehen. Man solle nicht denken, es gehe um etwas Höheres weit oben oder etwas Tiefes weit unten, da sei nichts. Aber im Essen, im Schlafen, im Scheißen da sei es. Die Frage laute: Wie machst Du all das? Es gehe nicht um das Objekt deines Tuns, oder um das, was in dich herein oder aus dir herauskomme. Worüber sie rede, sei: Was ist es, was all das tut? Das solle man finden und dann gebe es weder Leben noch Tod.
Ich glaube, das ist eine der konsequenteste Abwehrhaltungen gegen das Metaphysizieren, die ich kenne. Andererseits wirken auch die Versuche die Frage nach dem Wozu mit Leben zu füllen anziehend. Vor kurzem bot mir der Suchalgorithmus der Bibliothek ein Buch an aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Über den Sinn des Lebens, von G. A. Farner. Auch er wolle nicht Antworten über ein vermeintliches Oben oder Unten geben, keinen Jenseitsglauben, der das Leben, das wir hier in der Welt führen müssen, eigentlich entwerten würde, statt ihm einen Sinn zuzusprechen.

Hoch hinaus

Farner schreibe für alle Sinnsuchenden, gerade in einer Zeit kulturellen Wandels. Er wolle eine handfeste Weltanschauung liefern, auf die von ihm als Urfrage der Philosophie ausgemachte Frage nach dem Woher, Wohin und Wozu des Menschen.
Die krisengeschüttelte Zeit, in der er lebe, in der alte Wertordnungen die Menschen nicht mehr zusammenhielten und keine Orientierung mehr im Leben böten, hebe die Frage nach dem Sinn um so deutlicher ins Gedächtnis zurück. Solche Krisen machten deutlich, dass aller Materialismus, Nihilismus und die Verneinung eines Sinnes allgemein nur pubertäre Trotz- oder Trostlosigkeitsreaktionen seien, also Zeichen der Unreife. Diese Denkrichtungen seien Kinder materieller, also äußerlicher Sicherheit, welche die Illusion der Verneinung des Lebenssinns erzeuge. Gerade aber die schweren Zeiten, von Last und Entbehrung geprägt, machten umso deutlicher, wie wichtig die Besinnung auf innere Stabilität sei. Der Sinnahnung, die ein jeder Mensch spüre, nachzugehen und eine positive Antwort zu verlangen, sei hingegen das Zeichen des reiferen Geistes, denn je reifer ein Mensch, desto mehr wolle er sich in die großen Zusammenhänge des Lebens eingeordnet sehen.
Farner sieht sich als Fürsprecher jener Menschen, die einen zeitlichen, einen erfüllbaren Wunsch nach Sinn in der Endlichkeit des Lebens suchten, nicht nach einem bloßen Gegenstand des Glaubens.
Im alltäglichen Leben seien unsere Handlungen auf Zwecke gerichtet, wie die Familie oder das Vaterland. Aber, diese Dinge könnten nicht den Sinn des Lebens ausmachen, denn es seien endliche Dinge, in Raum und Zeit wandelbar. Sich allein auf endliche Zwecke zu beschränken, würde die geistige Höherentwicklung des Menschen letztlich gänzlich unterbinden. Denn: «Der Sinn ist das Höhere, von den Begrenzungen des Raumes und der Zeit unabhängig.» (Farner, G. A.: Über den Sinn des Lebens, Zürich: Wegweiserverlag, 1938 S. 234) Der Sinn throne über allen Zwecken und sei unwandelbar:

«Es gibt nur einen Sinn des Lebens, den ewigen, unendlichen Sinn einer zur absoluten Vollkommenheit führenden Entwicklung. Dieser Sinn ist als endlicher Sinn gesetzt ein winziger Ausschnitt aus dem unendlichen Sinnganzen und ist im menschlichen Sein erfüllbar. Der endliche Sinn ist mit dem Erreichen der endlichen Entwicklungsmöglichkeiten erfüllt.» (Ebd., S. 234)

Nur ein solcher Sinn, scheint Farner zu glauben, könne als rettender Leuchtstern helfen, durch das Leben zu navigieren. Wie Tolstoi wehrt er sich gegen Versuche, dies Unendliche in Begriffe zu zwingen und so verdinglichen zu wollen. Wir sollten es, so Farner, mit Goethe halten, das Unerforschliche nicht leugnen und Ehrfurcht vor ihm, dem Unerforschlichen haben. Eigentümlicherweise möchte er das Ganze dann aber doch auf eine Art Prinzip bringen. Das Leben nämlich sei Teil des grossen Wandels, des Wesens der Entwicklung überhaupt, in dem wir als kleine Wandeleinheiten sozusagen für uns und im Kollektiv allen Wandels immer höher strebten.

Größenwahn

Tolstoi und auch Farner können die Begriffsproduktion trotz eigener Einschätzung nicht recht stoppen. Sie scheinen ihren Drang Unsagbares doch wieder sprachlich zu erfassen und insofern begreiflich zu machen, letztendlich nicht dauerhaft beruhigen zu können. Andererseits: hier müssen zwei Dinge unterschieden werden. Das mystische Erleben, von dem die Rede war, scheint nie auf Dauer gestellt werden zu können. Es tritt auf und endet wieder. Wie weit und inwiefern es ins Leben greift, ist weder immer gleich noch problemlos fixierbar. Ich vermute, dass je nach Lebensgeschichte, Bildungshintergrund, Gemüt, usf. solche Erlebnisse ganz unterschiedlich gedeutet und benutzt werden. Vielleicht hat es etwas mit dem Weiserwerden zu tun, wenn wir akzeptieren, dass es so etwas wie ein ultimatives Programmupdate für uns einfach nicht gibt, welches uns existentiell oder moralisch perfektioniert und sorglos durch das Leben weiterwandern lässt.
Mystische Erlebnisse und die Sinnfrage sind nicht «per se unschuldig». William James schreibt über jene Erlebnisse, sie hätten für die Trägerin oft den Eindruck einer Offenbarung oder Enthüllung eines obwohl sprachlosen so doch tiefgreifenden Weltwissens mit einer Autorität und Kraft, die man sonst kaum finde. Die Frage nach dem Sinn der Welt und des Lebens und deren Beantwortungsversuche operieren mit heiklen, ja hochgradig verletzlichen Teilen unseres Seelenlebens. Eine explosive Mischung.
Ludwig Wittgenstein gibt uns einmal das Bild eines Käfers in der Schachtel. Jeder hätte so einen. Niemand kann in die Schachtel des anderen schauen. Nur ich allein kann vom Blick auf meinen Käfer wissen, was ein Käfer ist. So ähnlich scheint oft über mystische Erlebnisse oder Sinneingebungen gesprochen zu werden, einerseits. Andererseits wird die Autorität des Erlebnisses für einen selbst gern als zwingend dargestellt. Aber wenn sie nur der Person, die sie erfahren hat, zugänglich ist, wenn sich nur für sie etwas Zwingendes ergibt, woher weiss ich dann, dass die Erfahrung «einer Wahrheit» entspricht, dass «ihr Zwang» kein «eingebildeter» ist. Gibt es keinen Käfer in der Schachtel? Muss man vielleicht sogar die Existenz mystischer, begrifflich nicht fassbarer Erlebnisse leugnen?  Muss man nicht. Aber vielleicht sollte man die «Autoritätsleihgabe» bei denen hinterfragen, die sich aufgrund einer solchen Erfahrung zum «Lehrer» der Menschen aufschwingen möchten, die nach Sinn suchen.

Hoch lebe der Alltag

Nun suche ich neben, hinter oder über den alltäglichen Dingen des Lebens nichts mehr, keinen außergewöhnlichen Gegenstand oder kein außergewöhnliches Tun. Weil das Gewöhnliche für sich in Ordnung ist, und keiner Verbesserung bedarf? Ist dann der Sinn über dem Ganzen aufgegangen, ohne dass sich etwas in der Welt hat ändern müssen?
Wittgenstein wird manchmal so verstanden, als habe er die Alltagssprache und das bedeutet die Praktiken des Alltags als eine Art Heilsbringer des Nachdenkens und Richter allen Sinns verstanden. So als wäre das alltägliche Leben nicht selbst oft problembehaftet.
Was weniger auffällt: Im Unterlassen von Handlungen und Überlegungen kann ein Gewinn liegen. Meist denken wir nur an unsere Neigungen, etwas anzufangen, etwas in die Wege zu leiten, aufzubauen, fertig zu bekommen, usw. Dem stellt sich dann etwas entgegen oder es misslingt. Wir suchen dann nach einem «Trick», der diese «Widerstände» aus dem Weg räumt und achten nicht darauf, dass die Widerstände nur relativ zu unseren Projekten bestehen. Hätten wir die Projekte nicht angefangen, wären auch die Widerstände nicht da.  Auch jede begriffliche Intervention in unserem Leben kann unabsehbare Folgen haben. Im philosophischen Nachdenken führt die zunächst als Lösung eines Problems gedachte begriffliche Verschiebung schnell zu neuen Zwängen und scheinbaren Denknotwendigkeiten. «Innovation und Folgelast» hat das der Philosoph Rainer Specht einmal genannt. Die Schwierigkeit besteht darin, sich von einem bestimmten programmatischen Denken distanzieren zu können, das sagt: «So, jetzt fangen wir noch einmal ganz von vorn an mit dem Leben, der Erkenntnis und überhaupt und zwar richtig, mit aller Genauigkeit und Gewissheit!» Wittgenstein in seiner späteren Philosophie plädiert, wenn er gegen solche Programme andenkt, nicht dafür, im Nebel des Ungefähren zu verharren und allen Mist, den man angefangen hat, einfach fortzusetzen. Er sagt vielmehr sogar, die Klarheit, die er anstrebe, sei eine vollkommene. (Wittgenstein, Ludwig: Nachlass 238 17f. 64, The Bergen Electronic Edition, Charlottesville, Virginia, USA: InteLex Corporation, 2003) Es geht ihm jeodch um eine Geistesklarheit, in der es gerade möglich wird, das Philosophieren abzubrechen, wann immer man wolle. Er philosophiert diese Haltung vor, gibt Beispiele, reiht sie in Ketten aneinander und bricht sie wieder ab. Er will seine Leserinnen und Leser nicht einfangen in einem System, seinen ihm selbst lieben Gedanken oder gar das uneinlösbare Versprechen einlösen, die Lösung aller Probleme durch eine bestimmte Gedankenbewegung gefunden zu haben. Was ihm vorschwebt, ist wohl eher ein Freiheitsgewinn im Denken und Handeln, der sich auch nicht mit einer Fetischisierung des Alltäglichen und Heiligsprechung des Hergebrachten verträgt, das manche an die Stelle von Denksystemen und Glaubensdogmen stellen wollten.

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