Es ist gut, Illusionen zu verlieren und Irrtümer zu entlarven. Zu glauben, man käme ohne Leid durch das Leben und müsse nicht sterben ist schlecht. Denn dann gerät man leicht in Verzweiflung, wenn man leiden und sterben muss. Es ist besser, sich auf diese Vorgänge vorzubereiten.
Michael Hampe
Professor für Philosophie ETH Zürich

Wahrheit

„Meine Zähne sind härter als meine Lippen und meine Zunge. – Ich kann es spüren.“
„Wenn ich nicht esse und nicht trinke, werde ich schwach.“
„Wenn ich 24 Stunden versuche nicht zu schlafen, überkommt mich schwere Müdigkeit.“
Alle kennen diese einfachen Wahrheiten. Wir sammeln Erfahrungen am eigenen Leib, die sie stützen. Es gibt auch Wahrheiten, die nicht so direkt zu erwerben sind.
„Die Erde ist eine Kugel, dreht sich um die eigene Achse und um die Sonne.“ „Vor vielen Millionen Jahren existierten andere Lebewesen auf unserem Planeten als heute.“ „Morphium betäubt wirkungsvoll Schmerzen.“ Um diese Wahrheiten einzusehen, muss man bestimmte Verfahren erlernen: der Geometrie und der Himmelbeobachtung, der Paläontologie und der Pharmazie? Wann muss man etwas definieren?

Jakob Holzer: Schiedsspruch des Königs Salomo. Public Domain Marc 1.0

Es gibt philosophische Debatten über die Bedeutung des Wortes „Wahrheit“ bei denen es darum geht, ob es sich auf nur aus Übereinstimmungen von Vorstellungen mit der Wirklichkeit, nur um Widerspruchsfreiheit, nur das offene zu Tage liegen einer Tatsache oder auf die Übereinstimmung zwischen Menschen bezieht. Diese Debatten sind jedoch weitgehend müßig. Denn es gibt alle diese Formen der Wahrheit.
Manchmal werden Wahrheiten durch Verfahren etabliert, in denen nach Übereinstimmung gesucht wird, etwa zwischen einem Fingerabdruck und dem Muster in der Haut eines Fingers. Ein anderes Mal werden Widersprüche ausgeschlossen, etwa, wenn man eine mathematische Theorie prüft. Ausgrabungen von Paläontologen bringen Verborgenes ans Licht, lassen es zutage treten. Und wenn ein Geschworenengericht einstimmig entscheiden muss, ob jemand schuldig ist oder nicht, dann ist es nach ihrem Urteil aufgrund ihres Konsenses wahr, dass der Angeklagte schuldig ist, wenn die Jury so entschieden hat.
Wahrheiten sind nicht immer gewiss. Denn es hängt von den Verfahren ab, wie gewiss sie sind. Schwer vorstellbar ist es, dass ich eines Tages einsehe, dass meine Zähne doch nicht härter als meine Zunge und meine Lippen sind. Aber es kann sein, dass ein Geschworenengericht sich geirrt hat, in einer höheren Gerichtsinstanz gegen es entschieden wird.

Wissenschaftliche Revolutionen

Moderne Wissenschaften gehen ständig kritisch gegen etabliertes Wissen vor. Weil nur da Wissen vorliegt, wo sich Personen auf Wahrheiten beziehen, führt dieses Vorgehen oft genug zur Erschütterung etablierter Wahrheiten. Absolute Wahrheiten und endgültige Gewissheit sind nicht das Ziel moderner aufgeklärter Wissenschaft. Sie sucht nach Fehlern, will es immer genauer wissen. Ihr grösster Erfolg besteht in der Auslösung einer sogenannten Revolution, die einen ganzen vergangenen Wissensbestand ins Wanken bringt. Dies geschah beispielsweise als Kopernikus das Ptolemäische Weltbild erschütterte, Lamarck und Darwin die Evolution der Arten entdeckten und Einstein die Unabhängigkeit von Raum und Zeit in der Newton‘schen Physik als falsch nachwies. Trotz der Erfahrungen mit diesen Erschütterungen können wir sagen, dass es wahr ist, dass der Raum gekrümmt ist und die Arten in einem Evolutionsprozess entstanden sind. Die moderne Physik nach Einstein und die Biologie nach Darwin hat dies mit speziellen Verfahren so herausbekommen. Bis auf weiteres gilt das.
Auch unabhängig von der Wissenschaft kann es interessanter und vor allem relevanter sein, Illusionen und Irrtümern als Wahrheiten zu entdecken. Zu glauben, man komme ohne Leid durch das Leben und müsse nicht sterben, ist eine Illusion. Dass der technische Fortschritt den Menschen nur Vorteile bringt, war eine Illusion.
Es ist gut, Illusionen zu verlieren und Irrtümer zu entlarven. Zu glauben, man käme ohne Leid durch das Leben und müsse nicht sterben ist schlecht. Denn dann gerät man leicht in Verzweiflung, wenn man leiden und sterben muss. Es ist besser, sich auf diese Vorgänge vorzubereiten. Technische Innovation hervorzubringen, ohne damit zu rechnen, dass sie unliebsame Folgen in der Gesellschaft haben können, ist blauäugig und kann zu bösen Überraschungen führen. Es ist besser, nicht eine illusionäre optimistisch-ideologische Einstellung gegenüber der Technik zu haben, sondern eher eine nüchtern realistische.
Aus praktischen Gründen ist deshalb das Interesse an der Entlarvung von Irrtümern und Illusionen wichtig, weil sie sich „rächen“ können. Es mag, wie Nietzsche meinte, auch sehr nützliche, für das Überleben förderliche Illusionen geben, so genannte „Lebenslügen“, wenn beispielsweise ein Mensch sich (und anderen) etwas vormacht über seine Leistungsfähigkeit, das nicht als der Wirklichkeit entspricht. Diese Illusion mag ihn stolz auf sich sein lassen und heiter stimmen, was eventuell seinem Sozialleben im Allgemeinen zugutekommt, obwohl auch Selbstüberschätzungen zu bösen Überraschungen führen können.

Aufklärung

Man kann den Prozess der Entdeckung von Irrtümern und Illusionen „Aufklärung“ nennen. Die Fähigkeit, Irrtümer einzusehen und von Illusionen lassen zu können, kann man als einen Aspekt der Weisheit ansehen. Eine Person, die an Irrtümern und Illusionen festhält, obwohl sie es besser wissen könnte, ist dagegen ein Narr oder eine Traumtänzerin, aber nicht weise. Auch die Demut des Sokrates, der von sich sagte, er wisse, dass er nichts weiss, war in diesem Sinne hilfreich. Denn sie veranlasste ihn dazu, bei anderen nach Wissen zu suchen. Was er fand, waren Irrtümer und Illusionen. Seine Gesprächspartner haben sich darüber nicht immer gefreut, doch trotzdem war es für sie wohl hilfreich, von Sokrates in diesem Sinne entlarvt zu werden: Denn wer Irrtümliches oder Falsches glaubt, weiss nichts und handelt eventuell aufgrund von falschen Voraussetzungen. War nicht auch Buddha ähnlich wie Sokrates ein weiser Aufklärer als er verkündete: „Es gibt Leid“ und so die Menschen von den Illusionen eines leidfreien Lebens befreien wollte?

 

Es gibt viele Wahrheiten, bei denen wir nicht sehen, welche Bedeutung sie für unser Leben haben könnten. Die genaue Ladung des Elektrons, das Alter des Universums, die Schädelgrösse der Individuen einer ausgestorbenen Saurierart – das alles scheint irrelevant für unser Leben (wenn auch nicht für die Tatsache, dass es uns als Menschen im Kosmos gibt). Doch manchmal finden vermeintlich abgelegene Wahrheiten Anwendungen in Techniken. Als Kopernikus die Doppelbewegung der Erde berechnete, konnte er nicht ahnen, welche lebensweltlichen Konsequenzen das beispielsweise einmal in der Navigation oder der Raumfahrt haben wird. Und Wahrheiten über das Laserlicht, die auch mit Phänomenen der Quantenphysik zu tun haben, schienen zunächst nicht von alltagspraktischer Bedeutung. Doch sie haben u.a. zum CD-Player geführt, der vor der Einführung der Speicherung von Musik auf Computern und den so genannten MP3-Playern, im Alltag vieler Musikliebhaber von Bedeutung war (und immer noch ist).
Die Frage, was die Wahrheiten sind, die für unser Leben wirklich von Bedeutung sind, ist also schwer zu beantworten. Zu versuchen, herauszufinden, über welche Wahrheiten man verfügen muss, um sich Weisheit anzunähern, ist deshalb vielleicht gar nicht der richtige Ansatz. Danach zu streben, möglichst viele Illusionen zu verlieren, könnte hilfreicher sein. Vielleicht ist die Menge an Irrtümern und Illusionen unerschöpflich. Eine vorsichtige und skeptische Einstellung gegenüber Wahrheitsansprüchen erscheint daher zumindest klug. Besser nichts als wahr zu behaupten, weil das nur zu Streitigkeiten und Beunruhigungen führt, war eine Maxime der Pyrrhoniker. Man kann in Pyrrho (360-270 v.) einen Weisen sehen. Vielleicht hat Weisheit also weniger damit zu tun, sich im Besitz bestimmter besonders lebensrelevanter Wahrheiten zu glauben, als damit, Irrtümer und Illusionen zu scheuen, vorsichtig in seinen Wissensansprüchen zu sein und sich aus Streitigkeiten so weit wie möglich herauszuhalten.

MH, Zürich

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Albumtext
Wahrheit

Die Erde ist eine Scheibe. Zwei mal zwei macht vier. Viren gibt es nicht. Zucker kann Karies verursachen. Die Wirtschaften der Welt werden von einer unsichtbaren Hand zum größtmöglichen Glück aller gelenkt.
Wahrheiten und Unwahrheiten bestimmen unser Leben. Welche Wahrheiten sind überhaupt relevant? Welche Illusionen gefährden eine gelungene Lebensführung?

Albumtext
Tod

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Podcast
Alles ist Nichts - Einführender Podcast zum Daoismus (German)
Podcast mit Kai Marchal über den Daoismus, seine Hauptwerke und Hauptvertreter.
Liegt im Dao das Gute Leben verborgen? Wo muss ich es dann suchen? Was ist das Dao überhaupt?

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Die buddhistische Lehre ist eine mögliche Antwort auf die Frage, wie man leben soll, die Frage, die – gemäss Kant – im Zentrum der praktischen Philosophie steht. Sie ist aber auch eine therapeutische Philosophie mit einem starken normativen Anspruch.
Bruno Contestabile

Die vier buddhistischen Wahrheiten

Alt aber aktuell

Ursprung

Die Legende von den vier Ausfahrten sagt, dass Siddhartha Gautama, der spätere Buddha, als Prinz in einem königlichen Palast aufwuchs. Er wurde von seinem Vater streng behütet, weil alle Astrologen und Wahrsager vorhersagten, dass sein Sohn durch das “Tor der Verheissung“ gehen werde. Als der Prinz eines Tages den Willen äusserte, eine Ausfahrt zu machen, befürchtete sein Vater er könnte ihn verlassen und versuchte seinen Wohnort möglichst attraktiv zu machen. Die ganze Stadt wurde schön geschmückt. Die Strassen wurden gefegt und mit frischen Blütenblättern bestreut.
Trotz all dieser Vorsichtsmassnahmen geschah es, dass der Prinz einem abgemagerten, von Schmerzen gezeichneten, alten Mann begegnete. Seine Zähne waren ausgefallen, sein Körper zitterte und war überall mit Falten bedeckt. Der Prinz fragte seinen Wagenlenker: “Wird jeder von uns dieses Schicksal erfahren? Sag mir die Wahrheit!“ Dieser antwortete: “Für alle Wesen überwindet das Alter die Jugend. Selbst dein Vater, deine Mutter, deine Freunde und Verwandten sind nicht frei davon.“ Daraufhin meinte der Prinz: “Nur kindische und unwissende Menschen sehen nicht, was das bedeutet – stolz und verrückt, wie sie in ihrer Jugend sind.“
Einige Zeit später, bei seiner nächsten Ausfahrt, entdeckte der Prinz auf der Strasse einen Mann, der nur mit grösster Mühe atmete. Seine Haut war mit Wunden bedeckt und verfärbt; seine Sinne schwach und sein Körper verkrüppelt. Wieder verlangte der Prinz eine Erklärung. Der Wagenlenker antwortete: “Dieser Mann ist schwer krank. Der Glanz seiner früheren Gesundheit ist dahin und er hat keinen Ort der Zuflucht.“ Darauf verglich der Prinz die Gesundheit mit einem Theaterstück im Traum und fragte: “Welcher weise Mensch, der eine solche Krankheit gesehen hat, würde das Theaterstück noch positiv bewerten?“
Bei der dritten Ausfahrt sah der Prinz einen Leichnam auf einer Bahre, bedeckt mit einem Baumwolltuch. Er war von einer Gruppe von Verwandten umgeben, die klagten und weinten vor Kummer. Während sie dem Leichenzug folgten, rissen sie sich Haare aus, warfen Staub auf ihren Kopf und schlugen sich auf die Brust. Worauf der Prinz wissen wollte: “Wer ist dieser Mann, der auf der Bahre getragen wird?“ Der Wagenlenker erwiderte: “Dieser Mann ist gestorben. Er muss seinen Besitz zurücklassen und wird seine Frau, seine Kinder und seine Freunde nie mehr wiedersehen.“
Auf der vierten und letzten Ausfahrt schliesslich bemerkte der Prinz einen friedlich aussehenden Bettler auf der Strasse und wunderte sich: “Wagenlenker, wer ist dieser ruhige Mensch mit der Opferschale und der safranfarbenen Kleidung?“ Dieser antwortete: “Er ist das, was wir einen Bettelmönch nennen, ein Mensch, der den Frieden sucht, der sich von Bindungen befreit hat und von Almosen lebt.“ [Lalitavistara Sutra, Kap.14, Kurzfassung, www.84000.co]
Diese Erfahrungen erschütterten das Weltbild des jungen Prinzen. Alter, Krankheit und Tod zeigten ihm die Unausweichlichkeit des Leidens; keine Mauer konnte ihn davor schützen. Er schwor, nicht eher zu ruhen, als bis er die Ursache des Leidens erkannt hatte. In einer der folgenden Nächte verliess er heimlich den Palast, trennte sich von seinen Privilegien und begann als asketischer Schüler die Weisheitslehren seiner Zeit zu studieren. Nach einer langen Reise durch materielle und spirituelle Landschaften war er überzeugt, den Weg zur Befreiung gefunden zu haben.

Befreiung

Die buddhistische Lehre ist eine mögliche Antwort auf die Frage, wie man leben soll, die Frage, die – gemäss Kant – im Zentrum der praktischen Philosophie steht. Sie ist aber auch eine therapeutische Philosophie mit einem starken normativen Anspruch. Die vier buddhistischen Wahrheiten können als Diagnose, Ätiologie, Prognose und Rezept gedeutet werden und stellen eine detaillierte Anleitung zur Befreiung vom Leiden dar.

Erste buddhistische Wahrheit

«Dies nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Leiden (Dhukka): Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Tod ist Leiden; Kummer, Wehklagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung sind Leiden; Verbindung mit dem Ungeliebten ist Leiden; Trennung vom Geliebten ist Leiden; nicht zu bekommen, was man will, ist Leiden. Kurz gesagt, die fünf anhaftenden Aggregate sind Leiden.»

Es gibt verschiedene Interpretationen dieses Textes, aber oft wird er mit Pessimismus und einem überholten antiken Weltbild in Verbindung gebracht. In Factfulness (2018) argumentiert Hans Rosling, dass pessimistische Weltanschauungen durch unbewusste Vorurteile gekennzeichnet sind. Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten sei die Welt in einem viel besseren Zustand, als wir denken [1a]. In seiner vielbeachteten Publikation Enlightenment Now (2018) postuliert Stephen Pinker anhand von Statistiken, dass Sicherheit, Frieden und Glück sowohl im Westen als auch weltweit auf dem Vormarsch sind. Kann man Behauptungen zum Glückszustand der Menschheit empirisch überprüfen? Ein Problem besteht sicher darin, dass die am meisten leidenden Menschen nicht an Umfragen teilnehmen. Es gibt jedoch eine neue Idee, welche geeignet ist, die etablierten Statistiken zu hinterfragen.

Im Jahre 2022 erschien Population Ethical Intuitions, eine Studie von Lucius Caviola et.al. welche untersuchte, was westliche Durchschnittsbürger (in diesem Falle Amerikaner) über die Bewertung von Glück und Leiden denken. Das Resultat war erstaunlich. Im Durchschnitt vertraten die Teilnehmer – anders als die klassischen Utilitaristen – die Meinung, dass eine Welt nur dann lebenswert ist, wenn es wesentlich mehr glückliche als leidende Menschen gibt. Mit anderen Worten: sie massen dem Leiden mehr Gewicht zu als dem Glück. War den Teilnehmern bewusst, was das für ihre eigene Welt bedeutet?Wendet man nämlich diese Asymmetrie auf die bekannteste Umfrage zur Lebenszufriedenheit an, den World Happiness Report, so fällt die Gesamtbewertung negativ aus [1b]. Vielleicht ist die frühe buddhistische Ablehnung der Welt (Samsara) doch nicht so überholt, jedenfalls dann, wenn die Bewertung auf Empathie gründet [1c].

Zweite buddhistische Wahrheit

«Und dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit über das Entstehen von Leiden: das Verlangen, das zu weiterem Werden führt – begleitet von Leidenschaft und Vergnügen, dem Genuss hier und dort – d.h. Verlangen nach sinnlichem Vergnügen, Verlangen nach Werden, Verlangen nach Nicht-Werden.»

Die zweite buddhistischen Wahrheit ist mehr als eine Reflexion über das Funktionieren der Psyche. Sie beschreibt die treibende Kraft des Kreislaufes von Geburt, Tod und Wiedergeburt. In seinem Buch River Out of Eden (1995) verwendet Richard Dawkins die (umstrittene) Metapher von Gottes Nutzenfunktion, wenn er von dieser Kraft spricht. Damit ist das Bestreben der Organismen gemeint, die Verbreitung ihrer Gene zu maximieren. Bei der evolutionären Selektion hat sich herausgestellt, dass die Fähigkeit zu leiden die biologische Fitness verbessert. Die Intensität von Schmerzempfindungen und die Tiefe des Leidens nehmen deshalb zu im Laufe der Evolution [2a]. Ob sich dieser Trend durch technologischen und sozialen Fortschritt umkehren lässt, wissen wir (noch) nicht [2b]. Es könnte auch sein, dass die Visionen einer säkularen Erlösung (Paradise engineering) eine ähnliche gesellschaftliche Funktion ausüben, wie religiöse Heilsversprechungen. Sie machen das Leiden in der Gegenwart erträglicher und verschieben das Glück in die Zukunft [2c].

«Gottes Nutzenfunktion« ist auch eine Ursache des Bevölkerungswachstums in den letzten Jahrzehnten. Die absolute Zahl der leidenden Menschen ist heute größer als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte bis zum 20. Jahrhundert. Die Zahl der glücklichen Menschen ist ebenfalls größer, aber das Leid der einen kann nicht einfach mit dem Glück der anderen kompensiert werden [2d]. Warum benennt die zweite buddhistische Wahrheit nicht klar die Fortpflanzung als wichtigste vermeidbare Ursache menschlichen Leidens? Eine mögliche Antwort findet man im Kontext der dritten buddhistischen Wahrheit.

Dritte buddhistische Wahrheit

«Und dies, Mönche, ist die edle Wahrheit der Beendigung des Leidens: das restlose Verblassen und Aufhören, die Entsagung, der Verzicht, die Befreiung und das Loslassen eben dieses Verlangens.»

Die dritte buddhistische Wahrheit sagt, dass das Leiden besiegt werden kann, wenn man seine Ursache (Tanha, das Verlangen) erkennt und beseitigt. Ist es nicht am naheliegendsten, sich vom Kinderwunsch zu befreien und damit das Leiden der nächsten Generation zu verhindern? Was uns heute trivial erscheint, war für die frühen Buddhisten nicht offensichtlich. Trotz den Parallelen zwischen Wiedergeburtslehre und (Epi-)Genetik gibt es einen entscheidenden Unterschied. Die Buddhisten gingen davon aus, dass ein Bewusstseinsstrom existiert, der im Moment des Todes (und nicht im Moment der Fortpflanzung) in eine nächste Existenz übergeht. Die Möglichkeit, dass das Bewusstsein des Kindes auf das Bewusstsein der Eltern zurückgeht, wurde ebenfalls diskutiert (!) aber verworfen, weil Kinder mit denselben Eltern unterschiedliche kognitive Eigenschaften entwickeln [3a].

Unter den genannten Annahmen ist es plausibel, dass die Buddhisten dem Übergang vom Leben zum Tod eine besondere Aufmerksamkeit schenkten. Es ist auch verständlich, dass sie die Selbstauflösung in der Meditation als eine Art Übung für den Sterbeprozess betrachteten. Nach der Nirodha-Interpretation des Pali-Kanons war Buddha überzeugt, dass der höchste – und nur im Tod erreichbare – Zustand der Meditation (Pari-nirvāṇa) der Schlüssel zur Beendigung der Wiedergeburten und damit der Schlüssel zur Beendigung des Leidens ist. In einigen Traditionen wird dieses Ende als Auflösung des individuellen Bewusstseins in ein kosmisches Bewusstsein gedeutet [3b] [3c].

Unabhängig von der antiken Soteriologie kann eine buddhistische Meditation als tiefe innere Befreiung erlebt werden. Die positive Erfahrung der Nicht-Existenz (des Selbst) ist der Schlüssel zur Versöhnung mit Vergänglichkeit und Tod [3d]. Buddha beschreibt das Selbst als zusammengesetztes, abhängiges und veränderliches Phänomen (Anatta). Wir sollten es mit der gleichen Gelassenheit betrachten können, wie alle anderen Erscheinungen dieser Welt [3e]:

«Das sollt ihr denken, von dieser flüchtigen Welt:

ein Stern in der Morgendämmerung,

ein Wirbel in einem Strom,

ein Blitz in einer Sommerwolke,

ein Trugbild in einem Traum.»

Diamant Sutra

Vierte buddhistische Wahrheit

«Und dies, Mönche, ist die edle Wahrheit des Übungsweges, der zur Beendigung des Leidens führt: genau dieser Edle Achtfache Pfad: rechte Sichtweise, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, und rechte Konzentration.»

Der Achtfache Pfad ist auf eine Lebensweise ausgerichtet, welche die Meditation unterstützt:

  • Weisheit (Prajna) begründet den Weg: Sichtweise und Entschluss.
  • Ethisches Verhalten (Sila) fördert eine günstige Umgebung: Rede, Handeln und Lebensunterhalt.
  • Mentale Disziplin (Samadhi) schafft die Voraussetzungen für Spiritualität: Anstrengung, Achtsamkeit und Konzentration.

Obwohl der Zusammenhang zwischen Fortpflanzung und Entstehung eines neuen Bewusstseins nicht richtig erkannt wurde, galt für Mönche das Ideal der Kinderlosigkeit. Sie begründeten ihre Haltung mit dem Anhaften an die materielle Welt (Samsara), welche eine Elternschaft mit sich zieht und welche in der Folge das meditative Ziel gefährdet. Es ist wahr, dass eine derart strenge Auslegung des Achtfachen Pfades das menschliche Leiden definitiv beenden würde. In der Praxis waren (und sind) aber die meisten von solcher Strenge überfordert. Der Buddhismus entwickelte sich von Beginn an durch eine Symbiose von Mönchen und sympathisierenden Laien. Während die Mönche das Wissen bewahrten und lehrten, hielt es die Laiengemeinschaft am Leben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der frühe Buddhismus die hellenistischen Philosophen beeinflusste, insbesondere die Kyniker, Pyrrho, Epikur und die frühen Stoiker [4a]. In der heutigen Zeit findet man verwandte Ideen in Bewegungen wie Einfaches Leben (Simple living), Back-to-Nature, Tiefenökologie und Antinatalismus [4b] [4c].

Im 1. Jahrhundert v. Chr. entstand im Buddhismus eine Strömung (Mahayana) welche Mitgefühl gegenüber Weisheit aufwertete. Betrachtungen über die Zufälligkeit und Unbeständigkeit des Selbst (Anatta) hatten zum Schluss geführt, dass das Leiden der anderen ebenso real und so wichtig ist, wie das eigene Leiden. Das neue Ideal (Bodhisattva) war jetzt ein Mensch, der auf sein eigenes Heil verzichtet, um andere vom Leiden zu befreien [4d]. Die buddhistische Vorstellung einer tiefgründigen Verbundenheit aller Menschen fand schliesslich im Human Genome Projekt (1990-2003) eine wissenschaftliche Entsprechung:

99.9% des menschlichen Genoms werden permanent wiedergeboren [4e].

Eine der Mahayana-Bewegung entsprechende Aufwertung des Mitgefühls findet man heute in der leidzentrierten Ethik (Suffering-focused ethics), ein Sammelbegriff, welcher u.a. den säkularen Buddhismus und den negativen Utilitarismus einschliesst [4f] [4g]. Mit dem verstärkten Austausch von westlicher und östlicher Philosophie sind die Grenzen des Buddhismus fliessend geworden.

Der nicht-doktrinäre Buddha

Vor 2500 Jahren, als Buddha mit einer grossen Gemeinschaft von Mönchen umherwanderte, stiess er in einer Stadt namens Kesaputta auf grosse Skepsis. Die Bewohner dieser Stadt, Kalamas genannt, beklagten sich über die Vielzahl von kontroversen Lehren: «Es gibt einige Mönche und Brahmanen, ehrwürdiger Herr, die Kesaputta besuchen. Sie erklären und erläutern nur ihre eigenen Lehren; die Lehren der anderen verachten sie, schmähen sie und zerreissen sie. Ehrwürdiger Herr, es gibt Zweifel, es gibt Ungewissheit in uns. Welcher dieser ehrwürdigen Mönche und Brahmanen hat die Wahrheit gesprochen und welcher die Unwahrheit?»

Buddha war vermutlich ein rhetorisches Talent und besass die Fähigkeit, seine Sprache den Zuhörern anzupassen. In diesem Falle antwortete er wie folgt: «Es ist richtig für euch, Kalamas, zu zweifeln, unsicher zu sein. Verlasst euch nicht auf das, was durch wiederholtes Hören erworben wurde, noch auf Gerüchte, noch auf das, was in einer Schrift steht, noch auf Überlegungen wie: Der Mönch ist unser Lehrer. Kalamas, wenn ihr selbst wisst: Diese Dinge sind schlecht, diese Dinge führen zu Schaden und Übel, dann gebt sie auf. Wenn ihr aber selbst wisst: Diese Dinge sind gut, dann geht darauf ein.» [Kalama Sutta, Kurzfassung, www.accesstoinsight.org]

Erst nach dieser Einleitung begann er – anhand von Beispielen aus der Lebenspraxis – seine Lehre zu erklären. Das ist ein Plädoyer für selbständiges Denken, für das Überprüfen von Behauptungen, und für den Wert der Erfahrung. Der nicht-doktrinäre Buddha erscheint hier als Vorbote der sokratischen Denkweise.

Quelle: Socrethics,  Februar 2025
Zürich, Bruno Contestabile

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