Wahrheit
„Meine Zähne sind härter als meine Lippen und meine Zunge. – Ich kann es spüren.“
„Wenn ich nicht esse und nicht trinke, werde ich schwach.“
„Wenn ich 24 Stunden versuche nicht zu schlafen, überkommt mich schwere Müdigkeit.“
Alle kennen diese einfachen Wahrheiten. Wir sammeln Erfahrungen am eigenen Leib, die sie stützen. Es gibt auch Wahrheiten, die nicht so direkt zu erwerben sind.
„Die Erde ist eine Kugel, dreht sich um die eigene Achse und um die Sonne.“ „Vor vielen Millionen Jahren existierten andere Lebewesen auf unserem Planeten als heute.“ „Morphium betäubt wirkungsvoll Schmerzen.“ Um diese Wahrheiten einzusehen, muss man bestimmte Verfahren erlernen: der Geometrie und der Himmelbeobachtung, der Paläontologie und der Pharmazie? Wann muss man etwas definieren?
Es gibt philosophische Debatten über die Bedeutung des Wortes „Wahrheit“ bei denen es darum geht, ob es sich auf nur aus Übereinstimmungen von Vorstellungen mit der Wirklichkeit, nur um Widerspruchsfreiheit, nur das offene zu Tage liegen einer Tatsache oder auf die Übereinstimmung zwischen Menschen bezieht. Diese Debatten sind jedoch weitgehend müßig. Denn es gibt alle diese Formen der Wahrheit.
Manchmal werden Wahrheiten durch Verfahren etabliert, in denen nach Übereinstimmung gesucht wird, etwa zwischen einem Fingerabdruck und dem Muster in der Haut eines Fingers. Ein anderes Mal werden Widersprüche ausgeschlossen, etwa, wenn man eine mathematische Theorie prüft. Ausgrabungen von Paläontologen bringen Verborgenes ans Licht, lassen es zutage treten. Und wenn ein Geschworenengericht einstimmig entscheiden muss, ob jemand schuldig ist oder nicht, dann ist es nach ihrem Urteil aufgrund ihres Konsenses wahr, dass der Angeklagte schuldig ist, wenn die Jury so entschieden hat.
Wahrheiten sind nicht immer gewiss. Denn es hängt von den Verfahren ab, wie gewiss sie sind. Schwer vorstellbar ist es, dass ich eines Tages einsehe, dass meine Zähne doch nicht härter als meine Zunge und meine Lippen sind. Aber es kann sein, dass ein Geschworenengericht sich geirrt hat, in einer höheren Gerichtsinstanz gegen es entschieden wird.
Wissenschaftliche Revolutionen
Moderne Wissenschaften gehen ständig kritisch gegen etabliertes Wissen vor. Weil nur da Wissen vorliegt, wo sich Personen auf Wahrheiten beziehen, führt dieses Vorgehen oft genug zur Erschütterung etablierter Wahrheiten. Absolute Wahrheiten und endgültige Gewissheit sind nicht das Ziel moderner aufgeklärter Wissenschaft. Sie sucht nach Fehlern, will es immer genauer wissen. Ihr grösster Erfolg besteht in der Auslösung einer sogenannten Revolution, die einen ganzen vergangenen Wissensbestand ins Wanken bringt. Dies geschah beispielsweise als Kopernikus das Ptolemäische Weltbild erschütterte, Lamarck und Darwin die Evolution der Arten entdeckten und Einstein die Unabhängigkeit von Raum und Zeit in der Newton‘schen Physik als falsch nachwies. Trotz der Erfahrungen mit diesen Erschütterungen können wir sagen, dass es wahr ist, dass der Raum gekrümmt ist und die Arten in einem Evolutionsprozess entstanden sind. Die moderne Physik nach Einstein und die Biologie nach Darwin hat dies mit speziellen Verfahren so herausbekommen. Bis auf weiteres gilt das.
Auch unabhängig von der Wissenschaft kann es interessanter und vor allem relevanter sein, Illusionen und Irrtümern als Wahrheiten zu entdecken. Zu glauben, man komme ohne Leid durch das Leben und müsse nicht sterben, ist eine Illusion. Dass der technische Fortschritt den Menschen nur Vorteile bringt, war eine Illusion.
Es ist gut, Illusionen zu verlieren und Irrtümer zu entlarven. Zu glauben, man käme ohne Leid durch das Leben und müsse nicht sterben ist schlecht. Denn dann gerät man leicht in Verzweiflung, wenn man leiden und sterben muss. Es ist besser, sich auf diese Vorgänge vorzubereiten. Technische Innovation hervorzubringen, ohne damit zu rechnen, dass sie unliebsame Folgen in der Gesellschaft haben können, ist blauäugig und kann zu bösen Überraschungen führen. Es ist besser, nicht eine illusionäre optimistisch-ideologische Einstellung gegenüber der Technik zu haben, sondern eher eine nüchtern realistische.
Aus praktischen Gründen ist deshalb das Interesse an der Entlarvung von Irrtümern und Illusionen wichtig, weil sie sich „rächen“ können. Es mag, wie Nietzsche meinte, auch sehr nützliche, für das Überleben förderliche Illusionen geben, so genannte „Lebenslügen“, wenn beispielsweise ein Mensch sich (und anderen) etwas vormacht über seine Leistungsfähigkeit, das nicht als der Wirklichkeit entspricht. Diese Illusion mag ihn stolz auf sich sein lassen und heiter stimmen, was eventuell seinem Sozialleben im Allgemeinen zugutekommt, obwohl auch Selbstüberschätzungen zu bösen Überraschungen führen können.
Aufklärung
Man kann den Prozess der Entdeckung von Irrtümern und Illusionen „Aufklärung“ nennen. Die Fähigkeit, Irrtümer einzusehen und von Illusionen lassen zu können, kann man als einen Aspekt der Weisheit ansehen. Eine Person, die an Irrtümern und Illusionen festhält, obwohl sie es besser wissen könnte, ist dagegen ein Narr oder eine Traumtänzerin, aber nicht weise. Auch die Demut des Sokrates, der von sich sagte, er wisse, dass er nichts weiss, war in diesem Sinne hilfreich. Denn sie veranlasste ihn dazu, bei anderen nach Wissen zu suchen. Was er fand, waren Irrtümer und Illusionen. Seine Gesprächspartner haben sich darüber nicht immer gefreut, doch trotzdem war es für sie wohl hilfreich, von Sokrates in diesem Sinne entlarvt zu werden: Denn wer Irrtümliches oder Falsches glaubt, weiss nichts und handelt eventuell aufgrund von falschen Voraussetzungen. War nicht auch Buddha ähnlich wie Sokrates ein weiser Aufklärer als er verkündete: „Es gibt Leid“ und so die Menschen von den Illusionen eines leidfreien Lebens befreien wollte?
Es gibt viele Wahrheiten, bei denen wir nicht sehen, welche Bedeutung sie für unser Leben haben könnten. Die genaue Ladung des Elektrons, das Alter des Universums, die Schädelgrösse der Individuen einer ausgestorbenen Saurierart – das alles scheint irrelevant für unser Leben (wenn auch nicht für die Tatsache, dass es uns als Menschen im Kosmos gibt). Doch manchmal finden vermeintlich abgelegene Wahrheiten Anwendungen in Techniken. Als Kopernikus die Doppelbewegung der Erde berechnete, konnte er nicht ahnen, welche lebensweltlichen Konsequenzen das beispielsweise einmal in der Navigation oder der Raumfahrt haben wird. Und Wahrheiten über das Laserlicht, die auch mit Phänomenen der Quantenphysik zu tun haben, schienen zunächst nicht von alltagspraktischer Bedeutung. Doch sie haben u.a. zum CD-Player geführt, der vor der Einführung der Speicherung von Musik auf Computern und den so genannten MP3-Playern, im Alltag vieler Musikliebhaber von Bedeutung war (und immer noch ist).
Die Frage, was die Wahrheiten sind, die für unser Leben wirklich von Bedeutung sind, ist also schwer zu beantworten. Zu versuchen, herauszufinden, über welche Wahrheiten man verfügen muss, um sich Weisheit anzunähern, ist deshalb vielleicht gar nicht der richtige Ansatz. Danach zu streben, möglichst viele Illusionen zu verlieren, könnte hilfreicher sein. Vielleicht ist die Menge an Irrtümern und Illusionen unerschöpflich. Eine vorsichtige und skeptische Einstellung gegenüber Wahrheitsansprüchen erscheint daher zumindest klug. Besser nichts als wahr zu behaupten, weil das nur zu Streitigkeiten und Beunruhigungen führt, war eine Maxime der Pyrrhoniker. Man kann in Pyrrho (360-270 v.) einen Weisen sehen. Vielleicht hat Weisheit also weniger damit zu tun, sich im Besitz bestimmter besonders lebensrelevanter Wahrheiten zu glauben, als damit, Irrtümer und Illusionen zu scheuen, vorsichtig in seinen Wissensansprüchen zu sein und sich aus Streitigkeiten so weit wie möglich herauszuhalten.
MH, Zürich
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