Wirklichkeit
Wenn Wirkliches geschieht: im Labor und im Zendo
Zwei Menschen gehen auf ihre Plätze. Es geht ihnen um Wirklichkeit. Beide glauben, dass wir, wenn wir abgelenkt sind, wenn „es“ ungenau zugeht, uns die Wirklichkeit nicht zugänglich ist. Sie scheinen aus ganz verschiedenen Bereichen zu kommen und in ganz verschiedenen Kontexten zu agieren: ein Wissenschaftler im Labor, ein Zenmeister im Zendo. Sie scheinen auch verschieden vorzugehen: Der eine will das Subjektive zum Verschwinden bringen, um zu einer Objektivität, die alle nachvollziehen können vorzustossen. Der andere scheint die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, die eigentlich nur ein Konstrukt ist, in der Praxis hinter sich zu lassen. Doch bemühen sie sich nicht beide, Wirklichkeit geschehen zu lassen und dieses Geschehen mit der genauesten Aufmerksamkeit auch noch zu bemerken?
Die Praxis des Experiments (der Neurowissenschaftler)
«Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder.»
Albert Einstein
Ein typischer Tag im Leben eines experimentellen Wissenschaftlers beginnt am Schreibtisch, vielleicht mit dem Kaffeebecher in der Hand. Nach dem Lesen der aktuellen Forschungsabstracts, zum Teil mehrseitiger Publikationen und Entwürfe aus dem eigenen Lab sowie von Kolleg:innen, nach dem Erledigen der ersten Korrespondenz, geht man „hinüber“ ins Labor. Dort muss vielleicht in der Zellkultur das Medium gewechselt werden: Der Replikations- und Zellzyklus von Kulturzellen kennt keine Wochenenden oder Feiertage, und mit einer Toleranz von maximal 12 Stunden muss alles standardisiert und ritualisiert, d.h. genau so durchgeführt werden, dass man später im Experiment bzw. in der Analyse danach zu optimalen und aussagekräftigen Ergebnissen kommt. Das gilt für sämtliche Agenzien und Abläufe: Die „Kunst“ des Experiments besteht darin, alles immer genau so zu tun, wie beschrieben, erprobt und repliziert, so dass der menschliche Faktor – das Individuum mit seinen subjektiven Interessen und Zielen, seiner „Ichhaftigkeit“ – möglichst keinen Einfluss mehr auf die erzeugten Prozesse hat. Jedes Experiment soll ja von kundigen Dritten nachvollzogen und wiederholt werden können. Dabei ist das noch Unbekannte, das der experimentelle Prozess im Idealfall hervorbringen kann, die eigentliche interessante/interessierende Variable. Wenn es gut läuft, ist etwas bisher noch nicht Zugängliches das „Ergebnis“ der Analyse und führt damit letztlich zu einer neu gewonnenen Erkenntnis. Je nachdem, wie neu (also unbekannt, abweichend) für die Menschen im Labor das ist, was im Experiment erscheint, werden sie sich mehr wundern, mehr staunen, mehr freuen über den jetzt zutage getretenen Aspekt der Wirklichkeit. Und je besser nachweislich standardisiert und ritualisiert das experimentelle Handeln gestaltet wurde, desto zuverlässiger kann man einer bisher nicht bekannten Abweichung als einem Ergebnis, in dem tatsächlich Wirklichkeit entdeckt wurde, „Glauben schenken“. Hierfür müssen immer mehrere Versuche unternommen werden (die ersten werden stets verworfen), bis man jenem Standard und den Prozessen dahinter „wirklich vertrauen“ kann. Durch die Iterationen wird dieser Standard immer robuster. Der neu entdeckte Aspekt der Wirklichkeit tritt immer klarer zutage, die Ergebnisse werden immer eindeutiger und idealerweise nachvollziehbarer. Es ist, als habe man ein Verfahren gefunden, in dem etwas hinter einer Larve Verborgenes demaskiert werden kann oder nüchterner: ein Versuch, der Neues zeigt, ist replizierbar geworden. Das Neue ist jetzt allen zugänglich.
Hand aufs Herz und aus eigener Erfahrung: Lässt sich der individuelle, menschliche Faktor (die zweite oder erste Person) immer sicher ausschließen beim Experimentieren? Die Erfahrung lehrt: Schon die Tagesform, wie auch der Biorhythmus oder die Tageszeit, auch die Jahreszeit, können durchaus einen Einfluss haben. Der Durchführende (sofern ein Mensch) sowie jedwede „Unbekannte“ – und sei es eine abgelaufene oder verunreinigte Chemikalie oder auch nur eine chemisch leicht modifizierte Pufferlösung – können dazu führen, dass etwas nicht klappt, irgendetwas nicht stimmt, und dass das „Genau-So“ eine Illusion bleibt. Die unabhängige dritte Person (Laborant:in, Auswerter:in, Beschreiber:in) oder die teilnehmend beobachtende zweite Person (im Labor oder am Computer im Büro), schließlich die Perspektive des „Zu-Untersuchenden“ – all das lässt sich nicht immer sicher trennen. Und dann beginnt man wieder von vorn, setzt den ganzen Versuch neu auf, alle Agenzien neu an, stellt die gleiche oder eine abgewandelte Frage. Beginnt bei sich, dann in der Triangulation, schließlich im Team bzw. im Diskurs mit der ganzen relevanten Forschungs-Community. Dazwischen Meetings und Konferenzen. Und viele Zahlen und Buchstaben: Syntax und Semantik, Signifikanzen, Zeichen und Interpretationen (Semiotik). Alles ist im Fluss. Ob es dieses Mal gelingt, das Subjektive eindeutig vom Objektiven zu unterscheiden? Ist das Labor also ein Ort der Erkenntnis, wo versucht wird, durch Ritualisierung, Standardisierung und Wiederholung, durch ein „Entmenschlichen“ von Prozessen das Reale – die Wirklichkeit, die sich ständig auch ohne uns ereignet– für uns herauszuschälen, herauszupressen, so dass wir sehen, wie es ist?
(Tobias Esch)
Die Praxis der Meditation
„Die Menschen versuchen, es selbst beim Zazen noch zu etwas zu bringen. Selbst auf dem Wege Buddhas machen sie sich selbst Stress.“
Kodo Sawaki
Was tue ich, wenn ich Zen praktiziere? Antwort: Nichts besonderes. Es sei denn, Gehen während ich gehe; Sitzen während ich sitze oder Essen während ich esse, wird als besonders empfunden und mit dem Begriff „Meditation“ versehen.
Gleich zu Beginn will ich darauf hinweisen, dass der Begriff „Meditation“, entgegen der weitläufigen Annahme, keine eindeutige Bezeichnung und Zuordnung mehr ermöglicht. So wird er, gerade in den letzten Jahrzehnten, für zahlreiche und unterschiedlichste Praktiken und Techniken verwendet, die in unterschiedlichste Weltanschauungskontexte eingebettet sind. Die einheitliche Bezeichnung „Meditation“ für sich teilweise widersprechende Praktiken und mit ihnen verbundene Narrationen verführt leicht zu der Annahme, dass alle diese Gruppierungen und Praktiken, aller Unterschiede zum Trotz, ein gemeinsames Ziel verfolgen würden. Dem ist aber nicht so. Leider oder zum Glück. In der Regel ist sogar das Gegenteil der Fall, so dass wir gut beraten wären, die konkreten Praktiken zunächste jeweils nur im Kontext ihrer eigenen Narration zu verstehen. Das gilt auch für Zen und die Praxis des Zazen, die eben häufig als Zen-Meditation oder gar einfach „Mediation“ bezeichnet wird, was zu den eben angedeuteten Verzerrungen und Verwechslungen führen kann.
In der Tat ist es so, dass jeder der sich vollziehenden Augenblicke, sei es einer des Gehens, Sitzens, Essens oder was auch immer, so ich ganz eins mit ihm bin, eben augenblicklich sein eigenes ganz besonderes Sosein verkörpert. Das ist schon alles. Das ist Zen-Meditation. Das Ungewohnte liegt darin, dass ich in der Regel davon ausgehe, dass mein „Ich“ als eigenständig existierendes Subjekt von der Handlung und ihrem Ziel getrennt wäre. Deswegen muss „ich“ es sein, der immer etwas zu tun hat, auch wenn es sich bei diesem Tun um eine „Meditation“ handelt, die sogar als Ziel das „Bei-Sich-Sein“ anvisiert. Für mein „Ich“ ist die Aufteilung in Subjekt (Ich)-Objekt (Ziel)-Prädikat (Handlung) die selbstverständlichste Wiedergabe einer objektiv existierenden Wirklichkeit. Genau diese Annahme stellen Chan oder Zen in Frage. Sie wollen es aber nicht theoretisch tun, sondern unmittelbar praktisch, durch eine erlebte Einsicht. Weil es sich hierbei um eine grundsätzliche Einsicht in die Beschaffenheit unserer Wirklichkeit handelt, kann sie zu jeder Zeit an jedem Ort vollzogen werden. Eine Meditation, verstanden und praktiziert als ein „Um-zu“ ist unter diesen Umständen kontraproduktiv.
Daher ist das „Ziel“ von Zen weder das Erreichen von Etwas durch Jemanden, noch ein damit einhergehendes Üben. Es geht vielmehr um ein Bewusstwerden der Eigenart der so genannten Wirklichkeit, in der der Unterschied zwischen strebendem Subjekt und zu erreichendem objektiven Zustand gar nicht existiert. Es geht um ein Verhalten, das aus diesem Bewusstwerden „von selbst“ entspringt. Eine explizite Methode kennt das klassische Chan deshalb nicht. Ganz im Gegenteil. Denn Methoden sind von Subjekten anzuwendende zielgerichtete Verfahren. Es muss nicht mal etwas Besonderes getan werden. Es reicht, wenn ich das, was sich gerade vollzieht genauer, also bewusster vollziehe, um im Vollzug einzusehen, wie es sich ereignet. Und wie ereignet es sich? Es zeigt sich eben, der gängigen aber wohl ungenauen Annahme zum Trotz, dass es nichts gibt, das getrennt, eigenständig oder aus sich heraus existiert, sondern alles immer nur als Wechselwirkung erscheint: Weder Subjekt noch Objekt sind an sich, sondern existieren nur als Aspekte im Moment, aufeinander bezogen, kommen so in einem Geschehen, das nicht von einem Ich kontrolliert wird, zum Vorschein.
Die einfachste Handlung, welche dieses Bewusstwerden sowohl ermöglicht als auch ausdrückt, wird in der Chan- und Zen-Tradition „Zazen“ genannt, was so viel heißt wie: „Nur Sitzen“. Wie geschieht das Zazen? Während ich wach den Raum für das Zazen betrete, höre ich langsam damit auf, meinen sonstigen, zahlreich vorhandenen Vorstellungen Folge zu leisten. Das Betreten des Raumes (jap. Zendo) und das Gehen (jap. Kinhin) z.B. zum Sitzplatz werden aus meiner immer noch sich ereignenden Perspektive mehr zu dem, was sie jetzt sind, nämlich Mittel und Ziel in einem. So betrete ich das Zendo mit zusammengefügten Händen (jap. Gassho), die das „Hier-Sein“ für meinen sonst eher zerstreuten Geist andeuten. Schritt für Schritt folgt die Bewegung zum Sitzkissen hin, während der ich immer mehr zum eben verkörperten Gehen werde, was nichts anderes bedeutet, als dass ich mich wortwörtlich Gehen-lasse. Damit bezeichne ich die Tatsache, dass sich das Bewusstsein immer weniger von dem, was gerade nicht geschieht, aber gedacht und vorgestellt werden kann, ablenken lässt. An meinem Platz angekommen setze ich mich in natürlicher Geschwindigkeit hin. Sitzen wird nicht wirklich von mir oder einem in mir existentem „Ich“ gemacht. Das kann mir mit der Zeit immer bewusster werden. Es ist das sich Überlassen an zwei ineinander agierende Kräfte: Die Schwerkraft, welche den Körper erdet und das Sich-Aufrichten, welches ihn und spürbar auch das Bewusstsein wachhält. Das ist schon alles. All das geschieht auch sonst in jeden Augenblick des Lebens aufs Neue, kann aber als Zazen leichter, weil unmittelbar und ohne weitere „Zutaten“ verkörpert, eingesehen werden.
Und was mache ich? Nichts. Ich sitze nur während des Sitzens. Ich gebe mich mit dem Sitzen als Sitzen zufrieden. Mein Geist ist im Frieden und zwar nicht dadurch, dass er etwas erreicht hat, sondern indem er ganz wach nichts anderes will als das, was gerade eben geschieht. Zufriedenheit ist ein Ereignis, in dem die Subjekt-Objekt-Prädikat Perspektive und das mit ihr verbundene Streben (noch) nicht mehr stattfinden: Erlebtes, weil vollzogenes waches Sitzen. Der Ursprungsgeist. Das ist wohl der wichtigste Unterschied zu der sogenannten Alltagshaltung, in der die nahezu ausschließliche Identifizierung mit Bewusstseinsinhalten welcher Art auch immer, Augenblick für Augenblick die Subjekt-Objekt-Prädikat Perspektive entstehen lässt und mit ihr das Gefühl der Dualität, der Trennung, des Mangels, des Wollens und Strebens und der zahlreichen Befürchtungen. Mit anderen Worten: Jedes bewusste Erleben, in seiner einfachsten und unmittelbarsten Form Zazen genannt bietet die Möglichkeit zu „erwachen“. Damit ist jene erlebte Einsicht in die Beschaffenheit der Wirklichkeit genannt, wenn es unmittelbar, weil „erlebt“ klarer wird, in welcher Qualität das Bewusstsein und damit die uns mögliche Wirklichkeit sich von Augenblick zu Augenblick verkörpert.
Und was passiert jetzt? Jetzt ertönt der Gong. Das Zazen ist „zu Ende“. Augenblicklich lassen die Gedanken das „Ich“ (Subjekt) entstehen in Bezug auf die Toilette (Objekt), zu der ich schneller gehen (Prädikat) muss, damit alles seine Richtigkeit hat. Alltag? Ja. All-Tag. Alles wie immer und doch ganz anders.
(Alexander Poraj)
Ist es nicht merkwürdig, dass dauernd Unzähliges geschieht, ohne dass „wir“ es bemerken? Ist die Wissenschaft nicht der Versuch, besser zu bemerken und zu verstehen, was geschieht? Ist die Zen-Meditation nicht die Praxis, in der wir uns ganz dem, was geschieht, überlassen, ja in ihm verschwinden? Sind Aufklärung, Erwachen, Weisheit nicht alles Wörter für diese Haltung: „Mach Dir nichts vor!“ „Schau, wie es ist!“
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Die Erde ist eine Scheibe. Zwei mal zwei macht vier. Viren gibt es nicht. Zucker kann Karies verursachen. Die Wirtschaften der Welt werden von einer unsichtbaren Hand zum größtmöglichen Glück aller gelenkt.
Wahrheiten und Unwahrheiten bestimmen unser Leben. Welche Wahrheiten sind überhaupt relevant? Welche Illusionen gefährden eine gelungene Lebensführung?
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Liegt im Dao das Gute Leben verborgen? Wo muss ich es dann suchen? Was ist das Dao überhaupt?