«Jede Person ist mit ihrer Umwelt eng vernetzt. Wer stirbt oder sich tötet, dessen Leiden mögen verschwinden, aber schon nur für die Angehörigen entsteht neues Leid, wenn man sich aus dem Netz, in dem man mit ihnen existiert hat, einfach herausnimmt.»
Martin Münnich
METIS Projekt

Wohlstand

Blaupause des guten Lebens

A cooperative text by Martin Münnich, Michael Hampe, Tina Hilgarth & Francesco D’Amico

Alle Menschen haben Probleme. Leben ist einmal (von Karl Popper) als ein Problemlösungsprozess beschrieben worden. Das Auto geht kaputt, der Computer stürzt ab, man bricht sich ein Bein. Dann muss ein Mechaniker, ein IT-Spezialist, eine Ärztin her und helfen.
Doch nicht alle Probleme im Leben sind dieser Natur. Wenn man sich fremd in seinem Leben fühlt, einen der Partner verlässt, eine Familie auseinanderbricht, man eine unheilbare Krankheit bekommt, dann gibt es keinen Kniff, um das Problem zu beheben, obwohl viele von uns das vielleicht glauben. Solche existentiellen Probleme sind keine technischen, auch wenn sie ihre Muster haben und manche von ihnen eine Zeit lang vielleicht mit Psychopharmaka überspielen kann.
Existentielle Probleme sind keine Probleme im Leben, sondern sie stellen das Leben als Ganzes in Frage: Warum lebe ich überhaupt? Für was lebe ich? Wie habe ich mein Leben eigentlich zugebracht?
Auch ein Vermögen kann zu einem existentiellen Problem werden. Es kann das ganze Leben bestimmen. Es kann in ihm viele Möglichkeiten eröffnen. Es kann aber auch zu einer Last werden, weil es verwaltet, vermehrt, weitergegeben werden muss. Es kann das Leben verengen, alle Aufmerksamkeit aufsaugen.
Anders als Probleme im Leben, bei denen Spezialisten helfen können, braucht es für die Bewältigung von existentiellen Lebensproblemen das, was traditionell «Weisheit» genannt wird: verkörpert in einem Freund, der mich kennt, einer Person mit Lebenserfahrung, die mir vorsichtig deutlich macht, dass die Trickkiste jetzt nichts mehr bereit hält.
An die Stelle der Trickkiste, der Techniken, kann jedoch der Schatz an Erzählungen, Gleichnissen und Mythen treten, die auf allen Kontinenten der Welt gesammelt und überliefert worden sind und die Weisheiten bereithalten, wenn man sie zu lesen versteht. Sie können den lebenserfahrenen Freund nicht ersetzen. Aber vielleicht den Abstand zum eigenen Leben verschaffen, um einzusehen, dass man ihn braucht.

«Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.»

So beginnt Anna Karenina, der berühmte Roman Lew Tolstois. Tolstoi war ein bedeutender Schriftsteller, jemand, der wirkmächtig über den Sinn seines und des Lebens schlechthin nachgedacht hat. Zwar distanzierte er sich nach seiner Wende vom reichen «Highperformer» und Lebemann von seinen Bestsellerromanen und predigte über den Wert des einfachen Lebens des «gemeinen Volkes». Das sollte uns aber nicht davon abhalten, der einfachen Frage nachzugehen, wieviel Gewicht dem Eingangssatz von Anna Karenina eigentlich beizumessen ist. Gibt er eine allgemeingültige Wahrheit wieder? Falls ja, gilt sie nur für Familien oder auch generell für Individuen oder gar ganze Gesellschaften?
Sind wir, wenn wir glücklich sind, mehr oder minder auf dieselbe Weise glücklich wie alle anderen auch; ist dagegen jeder auf seine eigene Weise unglücklich? Sind wir nicht alle individuell in unserer Art, uns Ziele zu setzen, unsere Berufe und Freizeitaktivitäten zu wählen, unser Leben zu gestalten?
Die Forschung nennt Bedingungen des Glücks oder der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Neben Sicherheit und stabilen sozialen Beziehungen wird immer wieder auch Wohlstand genannt.
Wohlstand, das ist ein komplexer Begriff mit zentraler Bedeutung für unsere Gesellschaften und die individuelle Lebensführung. In Gesellschaften des sogenannten Westens nehmen Vorstellungen dessen, was eine Person ist, was sie ausmacht und wie sie sich entwickelt, ebenfalls eine bedeutende Stellung ein. Gute, gelingende Lebensführung wird oft enggeführt mit der bestmöglichen Entfaltung der personalen Möglichkeiten, Talente und Kompetenzen. Ein misslungenes Leben dagegen wird mit Vergeudung von Möglichkeiten in Zusammenhang gebracht.
Wohlstand scheint eine leitende Zielvorstellung, wenn Empfehlungen gegeben werden für gelingende Lebensführung, für anzustrebende persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Wohlhabende Gesellschaften und wohlhabende Menschen sind für uns einfach glücklichere Menschen. Ja, wer Wohlstand erreicht hat, der, so das Klischee, „hat es geschafft“, muss glücklich sein. Eine solche Person ist doch von allen Problemen des Lebens befreit: sie können leben wo sie wollen, bei Krankheiten können sie sich die teuersten ¨Arzte leisten, Freunde umschwärmen sie auf ihren rauschenden Festen… Worum sollten wohlhabende oder reiche Menschen sich noch Sorgen machen, mit Ausnahme der Verwaltung ihres Vermögens?
Doch es ist eine Täuschung, dass das Geld und die Dinge, die wir mit ihm kaufen, den Einfluss, den wir durch Geld ausüben können, allein glücklich machen. Wohlstand kann bestimmte Faktoren, die Unglück begünstigen, ausschalten und ein besseres Leben begünstigen, es ist aber keine Garantie für ein gutes Leben oder dafür, dass man sein Leben entsprechend den eigenen Gaben und Möglichkeiten auch zu leben vermag.
Wohlstand übt einen gravierenden Einfluss auf den Lebenswandel aus, und bringt dabei eigene Probleme mit sich. Die Gleichstellung von Reichtum und Glück ist schon deshalb in Frage zu stellen, weil menschliches Leben ein Prozess ist, der nicht einfach in einem dauerhaften Glückszustand mündet, sobald viel Geld, Einfluss, Macht und Besitz vorhanden sind. Es scheint, dass, wenn wir uns gegenseitig von solchen vermeintlich dauerhaften Zuständen erzählen und sie anstreben, wir uns etwas vormachen und zwar zu unser aller Unglück, seien wir nun schon wohlhabend oder noch nach Wohlstand strebende Menschen.
Selbstverständlich bedeutet Wohlstand nicht nur in westlichen Gesellschaften ein Plus an Einflussmöglichkeiten, einen Zugewinn an Wahlmöglichkeiten, um das eigene Leben und das anderer Menschen gestalten zu können. Es ist daher wichtig zu wissen, welchen Einfluss Wohlstand auf die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen und rückwirkend auf die Gesellschaft nehmen kann, in der sich diese bewegen.
Was also könnte ein weiser Umgang mit dem eigenen Wohlstand sein? Welche speziellen Formen des Unglücks könnten mit ihm einhergehen?

Vanitas mundi

«Nichts ist, dass ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein», heißt es beim barocken Dichter Andreas Gryphius. Auch Ruhm, alle Taten und deren Konsequenzen sind irgendwann vorüber. Wenn wir uns aber darauf konzentrieren, Zustände zu verstetigen, vermeintlich zu verewigen, geht damit, auch wenn man es zu Beginn vielleicht gar nicht merkt, eine Gefahr einher: wir leugnen den unvermeidlichen Wandel der Verhältnisse. Wir blenden den möglichen Verlust aus und wollen ihn dann, wenn er tatsächlich eintritt, nicht wahrhaben, können ihn nicht ertragen, bewerten ihn als ein aussergewöhnliches, vielleicht sogar ungerechtes Unglück. Dies geschieht immer dann, wenn wir uns ganz und gar mit dem Verlorenen identifizieren. Im Buddhismus wird dies als «Anhaften» bezeichnet. Das Anhaften kann sich auf Dingen, Begriffe, Gedanken, Vorhaben, Gefühlen, die eigene Körpergestalt, die eigenen Überzeugungen und vieles andere mehr beziehen. Es ist als einer der Hauptgründe des Unglücks, des misslingenden Lebens erkannt worden.
Was das aber im Einzelnen bedeutet, wo das Anhaften an vergänglichen Dingen anfängt und wo aufhört, ist nicht immer leicht zu sagen. Goethes Faust ist im Westen vielleicht eine Figur, die dieses Verhaftetsein literarisch besonders deutlich darstellt. In beiden Teilen des Werkes erscheint er als ein ständig Getriebener. Was er auch anfasst, er will es ganz und gar, in seinem innersten und vermeintlich ewigen Wesen erfassen, das Unvergängliche in allem Vergänglichem ergreifen. Faust glaubt stets «dem höchsten Dasein» verpflichtet zu sein, doch er wird immer wieder enttäuscht. Nichts, kein Studium der Wissenschaften, nicht die Religion oder die Philosophie kann seinen Durst nach Erkenntnis des Lebenssinnes stillen. Über den Weg akademischer Titel und Ehrungen hat er Karriere gemacht, ist ein alter hoch gelehrter Mann geworden. Doch hat er dort auch Weisheit erlangt? Die Verzweiflung ob seines trostlosen Zustandes zeigt das Gegenteil. «Alles vergebens! Alles vergeudete Zeit!» Also kann er auch gleich aus dem «lebendigen Totsein» fliehen und sich vergiften.
Bei einem solchen Todeswunsch waren auch schon Tolstoi und Ludwig Wittgenstein angelangt. Weder Faust, noch Tolstoi oder Wittgenstein erfüllten sich diesen Wunsch. Aus buddhistischer Sicht, eine gute Entscheidung. Denn die Frustration, die entsteht, wenn man nicht das Leben führt, welches man führen möchte, weil man meint, bestimmte Dinge noch nicht erhalten, bestimmte Wünsche noch nicht erfüllt bekommen zu haben – seien die Zielvorstellungen konkret oder diffus – und jene, aus denen heraus man den eigenen Tod herbeisehnt, beruhen beide auf der Täuschung, es gäbe etwas wie eine autonome Subjektivität, die das Leben ganz aus sich heraus gestalten kann, wenn ihr nur genug Machtmittel und Wissen zur Verfügung stehen. Auch die Selbsttötung ist, so gesehen, der Versuch, autonom zu sein: Ich entscheide, wann das Leben zu Ende ist! Ich habe die Macht es zu beenden. Doch beende ich es als autonomes Wesen wirklich oder werde «ich» von meiner Verzweiflung überwältigt? Wer sich tötet, beendet vielleicht seine Leiden, aber auch sich selbst. Er ist nicht leidfrei geworden, sondern ist dann gar nicht mehr. Es sei denn, er hofft auf ein paradiesisches Leben nach dem Tod.
Jede Person ist mit ihrer Umwelt eng vernetzt. Wer stirbt oder sich tötet, dessen Leiden mögen verschwinden, aber schon nur für die Angehörigen entsteht neues Leid, wenn man sich aus dem Netz, in dem man mit ihnen existiert hat, einfach herausnimmt. Manche Suizidale mögen glauben, es komme im Leben nur auf die eigene Person und ihre Wünsche und Nöte an, unabhängig vom Rest der Welt. Man jagt der Erfüllung dieser Wünsche nach, ohne auf die vielfältigen Vernetzungen zu achten, in denen man selbst mit all seinen Wünschen und Vorstellungen immer steht, vergisst dabei aber die schier unendlich vielen Konsequenzen, die meine Wunscherfüllungen haben können, vor allem wenn ich eine mächtige und wohlhabende Person bin, die sich sehr viele Wünsche erfüllen kann. Auch Faust sieht diese Interdependenzen nicht oder er will sie nicht sehen. Sonst würde er vermutlich viel vorsichtiger handeln. Stattdessen lässt er sich künstlich verjüngen und reißt das in ihn verliebte Gretchen, ihr Kind, ihren Bruder und ihre Mutter in den Tod. Er will das nicht als Konsequenzen seiner Taten wahrhaben; er verdrängt und schiebt seine Schuld stattdessen auf den Begleiter Mephistopheles.
Der zweite Teil der Tragödie beginnt mit einem geschenkten bzw. erzwungenen Vergessen. Faust kann wieder von neuem starten, ist aber auch um die Möglichkeit gebracht, sein Verhalten anzunehmen und sich zu verändern. Wie bei seiner Verjüngung wird Faust sozusagen nur auf den «Werkszustand zurückgesetzt», rebooted, und strebt dann blind vor Eifer  wie vorher immer wieder nach den vermeintlich grössten Würfen, sei es in seiner Tätigkeit als kaiserlicher Berater oder als Regent eines Reiches. Jedes Mal tritt er eine Welle aus Chaos, Gewalt und Zerstörung los, wenn er versucht, seine Ziele schnellstmöglich zu erreichen.
Faust trat den Verführungen des Mephistopheles zu Beginn der Tragödie zunächst als selbstbewusster Zyniker entgegen. Er glaubte, dass irdische Verlockungen ihn nicht mehr reizen können. Er glaubte, dass er sich in ihnen nicht mehr verlieren kann, weil er ihren illusorischen Charakter durchschaut hatte. Faust irrt. In beiden Teilen der Geschichte verstrickt er sich immer stets aufs Neue, ohne seine «Rückfälle» ins «Anhaften» an Illusionen je einzusehen. Er scheint alles zu erreichen, was er sich vornimmt, wird wohlhabend und mächtig. Doch seine Sorgen wird er nicht los. Er kann nicht in  ein gelassenes Verhältnis zu ihnen treten, wie es Wittgenstein einmal beschreibt:

«Sorgen sind wie Krankheiten; man muss sie hinnehmen: das Schlimmste, was man tun kann, ist, sich gegen sie auflehnen. Sie kommen auch in Anfällen, durch innere, oder äussere Anlässe ausgelöst. Und man muss sich dann sagen: «Wieder ein Anfall.»»

Weises Counceling?

Was Goethe anhand seiner Figur Faust zeigt, dass sich Lebenssorgen nicht durch Wohlstand und Einfluss komplett ausschalten lassen, dass sie jeden treffen und lähmen können, wird auch bestätigt in der jahrelangen Erfahrung beim Counceling wohlhabender Familien und Einzelpersonen. Dort zeigte sich, dass der Einfluss einer wohlhabenden Umwelt (das beinhaltet den Erwerb, den Besitz, wie die Aussicht auf Wohlstand.) auf die psychische Balance der Menschen und letztlich deren Persönlichkeitsentwicklung tiefgreifend ist. Wohlstand kann, ganz allgemein gesprochen, zwar dabei helfen, Fähigkeiten und Begabungen zu entwickeln und deren Wirksamkeit in der Öffentlichkeit zu verstärken, er birgt aber auch massives Frustrationspotential. Beides hat Einfluss auf das Sozialverhalten wohlhabender Menschen und darauf – und das ist von besonderem Interesse – wie verantwortungsbewusst sie sich in der Gesellschaft verhalten.
Wenn man, wie die Buddhisten, von einem hohen Grad wechselseitiger Abhängigkeit zwischen den Menschen untereinander und allen anderen Lebewesen und der nicht lebenden Prozesse ausgeht, sieht man schnell, wie schwer es sein kann, zum einen nicht vom Wohlstand kontrolliert zu werden und zum anderen mit ihm und seinen Vernetzungen weise umzugehen. Denn die Entscheidungen, die ich als Leiterin eines Betriebes, als Investor oder als CEO eines Unternehmenskonsortiums treffe, gehen nie nur mich und meine Person ganz allein an. Das zu glauben, würde bedeuten, den Irrweg der Faustfigur Goethes zu betreten.
Nimmt man Menschen als Individuen mit einer einzigartigen Lebensgeschichte, die dennoch eng miteinander verwoben sind in zahlreiche andere Geschichten, dann ist es vernünftig anzunehmen, dass es auch im Bereich der Beratung von wohlhabenden Einzelpersonen und Familien keine universalen und dennoch sinnhaften Ratschläge geben kann, keinen Kanon an allgemeinen Weisheiten, die jede wohlhabende Person für einen gelingenden Gebrauch des eigenen Wohlstands mit Bezug auf sich selbst und ihre Umgebung verwenden könnte. Weisheit bedeutet ja vor allem: einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation gerecht zu werden. Und wenn sich das Unglück von Personen jeweils unterscheidet, auch das Unglück von wohlhabenden Menschen, so muss der weise Rat sich auf ihre Lage beziehen und nicht auf wohlfeile Allgemeinheiten. Dennoch lassen sich aus den kondensierten Erfahrungen des Councelings Muster herausarbeiten, die untereinander in gewissen Zusammenhängen stehen. Sie weisen Familienähnlichkeiten auf in ihren Problemen und werfen ein Licht darauf, welche spezifischen Sorgen in einer wohlhabenden Umgebung entstehen können.

Vier kondensierte Selbstbildnisse wohlhabender Menschen

Der ewige Schatzmeister

Ich bin über 80 Jahre alt und nichtsdestotrotz immer noch ausgesprochen klar im Geist und leistungsfähig. Mein ganzes Leben habe ich auf die Verwaltung der Interessen meines Partners verwendet, der seit über 50 Jahren ein Industriekonglomerat betreibt. Ich habe stets akribisch und gewissenhaft in meiner treuhänderischen Funktion gearbeitet und das, was meiner Verantwortung unterlag, habe ich nicht nur verwaltet, sondern immer auch massgeblich optimiert. Der Reichtum dieses Konglomerats ist der Kern meiner Existenz. Auf ihn konzentriere ich all meine Talente und Fähigkeiten, um jedes Problem, dass sich aufbaut in den Griff zu bekommen und jeder Situation Herr zu werden.
Meine Kinder halte ich für unfähig von mir zu lernen und irgendwann einmal in meine Rolle zu schlüpfen. Ich kenne alle Aspekte und Feinheiten unseres Reichtums im Detail. Ich weiss, was sie wissen und können müssten, um mich zu ersetzen. Sie aber sind zu schwach, sie sind nicht engagiert und fokussiert genug für diese Aufgabe, weil sie immer irgendwelchen Schnickschnack im Kopf haben mit all ihren seltsamen Wertvorstellungen, dem Gerede von Nachhaltigkeit und Gleichheit. Sie sind einfach nicht in der Lage die richtigen Urteile zu fällen, die es in meiner Position benötigt. Solange ich kann, werde ich also diesen Job machen!
Was ich tun würde, könnte ich meiner Berufung nicht mehr nachgehen? Es ist meine Daseinsberechtigung! Ich habe all meine Energie darauf verwendet und muss jetzt erleben, wie man mich aus der Rolle drängen will, nur weil ich alt bin.

In Freiheit paralysiert

Wir sind nach allen Maßstäben wohlhabend. Meine Eltern reisten mit dem Privatflugzeug. Wir besitzen Häuser in vielen Ländern und lassen jedes von ihnen von Angestellten bewirtschaften. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt und habe zwei Geschwister. Beide haben ihren Teil von unserem Reichtum erhalten und leben sozusagen standesgemäß damit. Sie geben viel Geld aus und sie investieren, um ihr Geld noch zu vermehren. Kurzum, sie nehmen das an, was man ihnen gegeben hat. Ich aber will dieses Geld gar nicht, denn ich weiß, dass es schlecht ist. Bzw. es ist schlecht, sich daran zu klammern. Meine Familie macht sich über diese Haltung gedankenlos lustig. Ich solle diesen Reichtum, der mir ein komfortables Leben ermögliche und mich zum Mitglied der Oberschicht mache, einfach akzeptieren und mit ihm leben. Sie verstehen aber nicht, dass ich ich selbst sein will! Ich möchte mein eigenes Leben gestalten und nicht von anderen gestalten lassen. Daher stelle ich meine Projekte allein auf die Beine ohne Geld aus meiner Familie zu investieren. Ich weiß, dass ich es auch allein schaffen kann, wenn ich mir nur richtig Mühe gebe! Wenn ich etwas tue, dann nur aus mir selbst heraus! Dazu benötige ich das Geld meiner Familie nicht! Die Unmenge an Geld im Hintergrund würde mich nur verunsichern und mich ständig ängstigen. Noch habe ich im eigentlichen Sinne keine feste Tätigkeit, keine Arbeit. Ich habe mich noch nicht für einen der vielen Wege entschieden.


Mein Vermächtnis

Ich bin fünfzig und gehöre wahrscheinlich zu den reichsten Menschen des Landes. Meine Familie genießt ein hohes Ansehen, national wie international. Ich bin ein guter Mensch! Ich bin gerecht und großzügig. Menschen mit Reichtum und Ansehen sollten immer als gute Beispiele vorangehen und der Gemeinschaft Gutes tun. Ich möchte etwas bewirken. Ich möchte in der Welt etwas bewegen! Daher bin ich immer auf der Suche nach Möglichkeiten, etwas Gutes in die Tat umzusetzen. Oft aber muss ich feststellen, dass der erste Anstoß nicht genug ist. Er erzielt dann nicht die Wirkung, die ich mir vorgestellt habe. Wie soll man so den Menschen ein Vorbild sein? Es ist frustrierend, wie lange es dauert, bis endlich auch nur marginal gewünschte Ergebnisse eintreten. Wie soll man mich da als gutes Beispiel wahrnehmen können?! Was wird man in Zukunft von mir denken? Wird man sich an mich nur als weiteren wohlhabenden Schnösel und nicht als der Mensch, der ich wirklich war erinnern?


Lob der Muße?

Mittlerweile bin ich 75. Meinen Reichtum habe ich selbst erschaffen! Ich würde mich als sehr fleißig, klug, aber auch sensibel und menschlich bezeichnen. Vor fähigen und wohlgesonnen Menschen habe ich großen Respekt. Faulheit und mangelnde Leidenschaft allerdings, kann ich nicht akzeptieren. Mein Wohlstand, mein Geld bereiten mir Freude. Ich unterstütze gern junge Talente, berate sie und teile meine Erfahrungen gern mit ihnen, um sie weiterzubringen. Ich lerne auch von ihnen dazu und bin daher in viele Projekte mit solchen energischen Unternehmern wie ich es bin, involviert. Ich arbeite Tag und Nacht immer mit vollem Einsatz, um Dinge entstehen und vor allem: wachsen zu lassen. Würde ich den Kontakt zu jenen talentierten Menschen oder selber an Leidenschaft und Kraft verlieren, würde ich unglücklich. Sicher, ich habe auch eine Familie und liebe sie. Aber Familie allein ohne Engagement dafür, etwas Großes auf den Weg zu bringen und zu expandieren, das kann dem Menschen nicht genug sein!

Verfall einer Familie

«Wenn es in der Welt keinen Verfall gäbe: so würde es auch keine Fortschritte geben.»  

Reichtum und Wohlstand sind eng verknüpft, nicht nur mit individuellen Geschichten, sondern auch mit denen ganzer Familien. Über die Generationen wird nicht einfach Geld weitergegeben neben der vermeintlich unabhängig davon ablaufenden Familiengeschichte, die sich wiederum nicht für sich allein neben der Geschichte einer Stadt, eines Landes, eines Kontinents entwickelt. Zoomen wir kurz herein in die Geschichte einer norddeutschen Handelsfamilie und lassen wir sie willkürlich bei einem Mann namens Johann beginnen. Er lebte noch zu Zeiten des alten Goethe, sah sich klassischer Bildung und dem Geschäft gleichermaßen verpflichtet. Er hat zur Zeit der Befreiungskriege gegen die Vorherrschaft des napoleonischen Frankreichs das Grundvermögen der Familie als Getreidelieferant des preußischen Heeres angehäuft. Doch trotz seines geschäftlichen Erfolgs hält er es für falsch, sein Leben allein dem Geldverdienen zu widmen. In zweiter Generation verschiebt sich diese ihm selbstverständliche Haltung schon. Sein Sohn zeichnet sich durch ein angespanntes Berufsethos aus. Fehlt ihm der bildungsbürgerliche Halt, den sein Vater noch vorlebte?
Von seinen Kindern wird einer zur immer wieder tragisch scheiternden Figur, die sich hier und dort in Geschäftsgründungen versucht, doch alle scheitern. Mit den bürgerlichen Idealen seines Großvaters kann er sich nicht identifizieren und gilt als Faulenzer. Neben weiteren Kindern, welche die Familientradition nicht fortzuführen vermögen, schafft es nur ein Sohn das Erbe nicht nur zu übernehmen, sondern auch weiterzubringen und so Vermögen und Ansehen der Familie auf einen neuen Höhepunkt zu heben. Mehr noch als sein Vater wird er jedoch als jemand beschrieben, der sich in diese Position unter Gebrauch all seiner Kräfte zwingen muss. Man bezeichnet ihn daher oft als «Schauspieler», der eine ihm ungewollte und unpässliche Rolle spielen muss. So verwundert es nicht, dass ihm die Modernisierung des Unternehmens und die Anpassung an kapitalistische Geschäftspraktiken nicht gelingen. Er verspekuliert sich und leitet so den Verfall des Familienvermögens ein. In Berichten über ihn heißt es, er habe in ekstatischer Philosophielektüre seine Entfremdung von der eigenen Lebensführung schmerzlich einsehen müssen. Nach ihm zieht sich der Verfall des monetären und geistigen Erbes weiter durch die Familie. Sohn Hanno kann weder mit dem Geschäft noch mit dem großbürgerlichem Leben etwas anfangen. Die Schule empfindet er als peinigenden Zwang. Er flüchtet sich in die Musik und das Klavierspiel, habe aber das Level eines Dilettanten nie überschreiten können und stirbt früh an Typhus. Die Familie selbst stirbt aus. Ihr ganzer Wohlstand, der sich bis auf den «Vermögensgründer» zurückführen lässt, verteilt sich in die Welt oder wird von Unternehmenskonkurrenten aufgekauft.
Dies ist aus einer Perspektive eine tragische Verfallsgeschichte. Es ist in weiten Zügen der Familiengeschichte eines Schriftstellers nachempfunden, der sie in ein Buch bannte und dafür den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die Geschichte ist in einer anderen Perpsektive also so etwas wie das Prequel zum Schriftseller Thomas Mann. Sein Bruder Heinrich, ebenfalls ein großer Schriftsteller, fasste die Transformation, welche das Buch seinem Bruder ermöglichte einmal übertreibend so zusammen: Thomas habe nach den Buddenbrooks nie wieder am Leben leiden müssen.

I did it my way

Unzählige Kriegsheimkehrer fanden und finden nicht wieder recht zurück ins zivile Leben. Für sie ist die Kriegserfahrung nicht einfach ein „anstrengender Ausflug“, von dem man zurück in das geregelte Leben kehrt und einfach weiter macht, wo man aufgehört hat.
Für einen jungen Volksschullehrer im niederösterreichischen Neunkirchen war der freiwillige Eintritt ins Militär und in einen Konflikt, den man später als Ersten Weltkrieg bezeichnen würde, der Versuch, sein Leben zum Besseren zu wenden. Er wollte größtmögliche Anstrengung auf sich laden, so nah wie möglich an den Tod herankommen, um etwas über das Leben zu lernen, um den Lebenssinn zu finden. Noch Jahre nach dem Ende des Krieges sieht man ihn in Uniform herumlaufen und hält ihn deshalb in der kleinen Gemeinde für einen Sonderling.
Auch seine Familie betrachtete seine Wandlung mit Sorgen. Zeigte er nicht vor dem Krieg in einem Ingenieursstudium überdurchschnittliche Leistung? Hatte nicht einer der prominentesten Logiker Englands jener Jahre sich an seine Schwester mit den Worten gewandt, man erwarte von ihm die nächsten großen Schritte auf seinem Fachgebiet? Gewiss, wer hätte es nicht verstanden, wenn er sich nach den Strapazen des Krieges und der Gefangenschaft eine kleine Auszeit genommen hätte? Für seine Familie wäre das finanziell nicht eine Last gewesen. Sein Vater war ein Paradebeispiel des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Und weil der Vater nach dem Aufstieg zum Stahlmagnaten rechtzeitig und klug in amerikanische Papiere investiert hatte, wäre sein Sohn nicht nur der reichste Volksschullehrer Österreichs gewesen, sondern einer der reichsten Männer Europas, während Millionen anderer Menschen noch Jahre lang an den Folgen des Krieges zu leiden hatten.
Seine Familie jedenfalls war ob seiner Nachkriegsberufswahl entsetzt. Nicht weniger davon, dass er sein gesamtes Erbe abgab, sozusagen „finanziellen Selbstmord“ beging, wie sein Notar geseufzt haben soll. Diesen trieb er wohl in die Verzweiflung mit seinem Wunsch, dass es völlig ausgeschlossen sein sollte, dass auch nur die kleinste Summe noch ihm gehöre. Hätte er nicht einen Teil des Vermögens als Absicherung behalten können? Das scheint keine Option gewesen zu sein. Selbst in späteren Zeiten finanzieller Nöte, kam er nicht auf den Gedanken, bei seinen Geschwistern um Hilfe zu bitten, denen er sein Erbe übertragen hatte. Warum aber hatte er sich die Last eines solchen Lebens aufgeladen? – So indes muss man es nicht sehen. Er hatte sich in seinen Augen von zumindest einer Last befreit. Er hatte seinen Wohlstand und die dazugehörigen Vernetzungen anderen überantwortet. Auch war es ihm später wichtig, möglichst nicht mit dem Reichtum der Familie in Verbindung gebracht zu werden. Er gab sich als entfernter Verwandter aus.
Auf diese Weise konnte er sich vom Erbdruck befreien und seinen eigenen Weg, bzw. seine eigenen Wege gehen. Denn er blieb nicht lange Lehrer. Es zog ihn doch wieder an die Eliteuniversität Cambridge in England, wo er – widerwillig – lehrte und einer der größten Philosophen des 20sten Jahrhunderts wurde. Ludwig Wittgenstein stirbt mit 62 Jahren an einem Tumor und übermittelte seinen Freunden, ein wundervolles Leben gelebt zu haben.

Zwei weitere Selbstzeugnisse

Glück gehabt! / Lucky me!

Ich bin sechzig Jahre alt. Ich bin Künstler und sammle zeitgenössische Kunst. Ich habe eine Familie, vier Kinder und eine nette Frau. Ich habe ein gutes Leben! Sehr gern male ich Portraits, weil ich es mag, die Gefühle und Affekte der Menschen einzufangen. Einige der Bilder, die ich in meinem Atelier male, verkaufe ich. Daneben investiere ich in andere Künstlerinnen und Künstler, die ich gut kenne und von denen ich glaube, dass sie später als große Künstler anerkannt werden.
Man kann ohne Zweifel sagen, dass ich reich bin. Ich entstamme einer überaus wohlhabenden Familie und bin damit im Reinen. Als Künstler hätte ich mich nicht sorgenfrei entwickeln können, ohne diesen Hintergrund. Gewissermaßen habe ich mein Geld in mich selbst und meine künstlerische Entwicklung investiert. Im Alltag versuche ich nicht maßlos mein Geld zu verprassen, aber wenn ich gute Gelegenheiten sehe, dann greife ich zu oder investiere in andere Menschen. Ich führe ein glückliches Leben und ja, ich habe auch Glück gehabt.

Moral catalyzer

Mittlerweile bin ich fast 80 und kenne meinen Platz in der Welt. Ich weiß, was ich für die Gesellschaft für einen Beitrag leisten kann und für den Rest meines Lebens werde. Über die Jahre meines Lebens habe ich ein Industriekonglomerat aufgebaut und bin nun eine wohlhabende und einflussreiche Frau. Geerbt habe ich nur ein kleines Unternehmen, welches damals eigentlich in die «fähigen» Hände eines Mannes gehen sollte. Aber es landete bei mir, einer Ernährungsberaterin ohne irgendeinen wirtschaftlichen Hintergrund. Ohne geschäftliche Ausbildung, ohne Wissen von der Politik der Unternehmenswelt.
Ich nutze mein Vermögen, meine Gaben und Talente, um die Gesellschaft gerechter zu machen. Dazu gehört mein Einsatz für Geschlechterparität. Ich sehe mich in Verantwortung für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Menschen in meinem sozialen Umfeld. Was bedeutet das? Ich bin meinen Angestellten rechenschaftspflichtig und habe mich um sie, ihre Familien und deren Zukunft zu sorgen. Das sollte im Vordergrund des Bemühens von Menschen in leitenden Positionen stehen, nicht die Liebe zum Geld.
Auf eine Weise ist mir Geld gar nicht wichtig. Aber es dient mir dazu Werte zu schaffen, bzw. wirtschaftliche, kulturelle und soziale Werte aufzubauen, zu fördern und zu schützen. Unsere Gesellschaft muss immer neue Regeln des gemeinsamen Wirtschaftens und Zusammenlebens entwickeln, um gerechter zu werden, um die Gleichberechtigung voranzutreiben. Ich fühle mich verpflichtet, die Bedingungen für diese Entwicklung nach meinen Kräften zu schaffen. Das ist, was mich antreibt.

Eine globale Perspektive

Was erwarten Menschen von ihren Regierungen? Das ist pauschal schwer zu sagen und kommt auf den Einzelfall an. Ist es aber vermessen anzunehmen, dass Menschen von denjenigen, denen sie Verantwortung für ihre Lebensumstände zugestehen, erwarten dass sie möglichst klug handeln? Hoffen wir nicht, dass unsere Regierungen weise handeln? Was aber bedeutet das? Sind Regierungen klug oder weise, die versuchen, den Lebensstandard der Menschen ihres Landes nicht nur zu erhalten, sondern zu erhöhen? Denn, so könnte man meinen, ein höherer Lebensstandard resultiert doch in glücklicheren Menschen. Also sollte man als weise Regierung möglichst danach streben, diesen Standard vor allem über das Einkommen so weit wie möglich zu erhöhen. Jedoch ist dies eine zu einfache Rechnung. Einkommen und Lebenszufriedenheit stehen in einem Zusammenhang. Der Zürcher Ökonom Bruno Frey hat ihn untersucht und festgestellt, dass Menschen, deren Einkommen sich erhöht, auch angeben, dass sie mit ihrem Leben allgemein zufriedener sind als zuvor und im Vergleich zu Menschen mit geringerem Einkommen. Entgegen der ersten Intuition verläuft dieser Zuwachs nicht linear. Menschen gewöhnen sich an das erreichte Level ihres Lebensstandards, nachdem sie ökonomisch «aufgestiegen» sind und fangen dann an sich mit den Menschen selber Einkommensklasse kompetitiv zu vergleichen. Im Kontext seiner Untersuchungen trifft Frey eine sehr allgemeine Aussage über «den Menschen»:

«Der «Blick nach oben» motiviert die Menschen, immer mehr zustande bringen zu wollen. Sie sind mit dem Erreichten nie zufrieden und wollen immer mehr. Dies gilt nicht nur für Materielles («Geld», sondern auch für viele immaterielle Bereiche. Eine Auszeichnung oder Beförderung steigert zwar vorübergehend die Lebenszufriedenheit, erhöht aber gleichzeitig die Erwartung, weitere Auszeichnungen beziehungsweise Beförderungen zu erlangen. Der Mensch strebt nach mehr. Er ist unersättlich. Je mehr er erlangt, desto mehr will er.» («Glück. Die Sicht der Ökonomie, 59)

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die meisten Länder der Erde das BIP, das Bruttoinlandsprodukt als diezentrale Kennzahl für Wohlstand einer Gesellschaft etabliert. Es misst die Marktproduktion eines Landes: den Geldwert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft während eines Jahres produziert werden. Fällt die Zahl, ist das in der Regel schlecht. Regierungen sind also bestrebt die Zahl steigen zu lassen. Wenn unsere Regierungen danach streben, den Wohlstand ihrer Bürger oder einfach nur das Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen, folgen sie dann schlicht der von Frey vermuteten unersättlichen «Gier» «des Menschen» überhaupt? Kann man das wirklich als klug oder weise bezeichnen? Folgen die Regierungen gleichsam blind der «Unweisheit» der sich immer vergleichenden und stetig nach mehr strebenden Individuen, welche sie regieren? Das BIP misst nur scheinbar alles, denn andere wichtige Sachen, die eventuell auch zu den Bedingungen oder Ermöglichern gelingenden Zusammenlebens und eines florierenden individuellen Lebens gehören wie Bildungszugang, Gesundheitsversorgung, den Zustand der Umwelt oder auch nachhaltige Ressourcennutzung fängt diese Zahl nicht ein. Somit ist die Frage nach dem Sinn und dem Stellenwert des BIP auch eine Frage nach unserer eigenen Lebensweise oder Form des Lebens, denn es gestaltet das Flussbett unserer individuellen und kollektiven Entwicklung fortwährend mit.
Karma Ura, der Präsident des Zentrums für Bhutan Studies und Forschung zum Gross National Happiness Research hat deshalb versucht im sogenannten «Gross National Happiness Index» als Gegenentwurf zum BIP die Faktoren einzufangen, von denen das Glück der Bewohner eines Landes abhängt. Einkommen ist dort bspw. nur einer von mittlerweile 177 erfassten Faktoren. Dieser alternative Index enthält unter anderem Variablen sozialer Beziehungen, kultureller Verbundenheit, Gesundheit, Ausbildung, Rechte, Freiheiten und bspw. auch Zeit als Metafaktor sich den «Komponenten» des Lebens, die einem wichtig sind, auch angemessen widmen zu können. Statt einer faustischen Fixierung auf Wachstum in Form eines stetig steigenden BIPs bietet dieser Index den Führern einer Regierung die Möglichkeit die Geschicke des Staates an andauernder Verbesserung der Bedingungen des Glücks der Individuen auszurichten. Im buddhistischen Bhutan gehört die Verminderung des Leidens als handlungsleitendes Ideal zum gepflegten kulturellen Erbe. Glück und damit persönliche Entfaltung, Pflege der eigenen Talente, etc. ist, anders als nach vielen westlichen Vorstellungen, nicht allein Sache des einzelnen Menschen, es ist dort vielmehr zur «Staatsräson» erhoben worden. Karma Ura, daran maßgeblich beteiligt, betont, es gehe nicht darum vorzuschreiben, wie die Leute zu Leben hätten, um dann quasi per Dekret glücklich zu sein. Vielmehr hat man die Bevölkerung selbst nach den relevanten Faktoren für Lebenszufriedenheit befragt, um der Komplexität des menschlichen Lebens einigermassen gerecht werden zu können.
Die Vorstellung, die gelingende Entfaltung meiner Person sei allein meine Angelegenheit wird in zweierlei Hinsicht kritisiert. Zum einen zieht sich die Regierung so, aus buddhistischer Perspektive, aus ihrer Verantwortung heraus, das Leid unter der Bevölkerung zu mindern. Zum anderen fußt diese Idee auf der Illusion, man könnte sein Leben ganz aus sich allein heraus gestalten, unabhängig von allen anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, etc. Die Gier nach mehr / ewigem Wachstum und die ausgeblendete Interkonnektivität menschlichen Lebens sind Steigbügelhalter einer Vorstellung von gelungenem Leben, das sich in unaufhörlicher privater Konsumption erschöpft. Das ist schon aus rein egoistischer Perspektive keine gute Idee.

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